Gib mir deine Seele
nur störten.
Nachdem sie das Kostüm abgelegt hatte, verabschiedete sie sich höflich aus der Kostümabteilung, legte sich das weiche Tuch wieder um den Hals, das sie gegen Zugluft schützen sollte, und ging zur Kantine, um auf ihren nächsten Termin zu warten.
Ihr Lieblingsplatz war frei, und so setzte sie sich auf die kleine Bank direkt am Fenster. Von hier konnte sie den gesamten Raum übersehen, halb verborgen von den Blättern einer üppigen Benjamini-Pflanze.
Während sie in ihrem heißen Tee rührte, um ihn schneller abzukühlen, genoss sie die Spezialität der Kantinenköchin: ein üppig belegtes Hühnchensandwich mit frischem Salat, knusprigem Speck und einem Spiegelei. In Constantins Gegenwart verzichtete Pauline darauf, Fleisch zu essen. Das fiel ihr normalerweise leicht. Doch manchmal überkam sie eine solche Lust auf Gegrilltes oder ein Stück Wurst, dass sie einfach nicht widerstehen konnte.
Sie hatte eben den letzten Bissen mit dem inzwischen trinkbaren Tee heruntergespült, als Frasquita und Mercédès die Kantine betraten.
Die beiden Sängerinnen trugen bereits ihre Probenkostüme. Schnürmieder und dazu weite Röcke, die es ihnen erleichtern sollten, sich in ihre Rolle zu finden und sich später besser im eigentlichen Kostüm bewegen zu können. Auch für Pauline wurde es Zeit, sich umzuziehen, aber als sie aufstehen und die Kolleginnen begrüßen wollte, sagte Sandy aus Ohio, die ohne Maske wenig Ähnlichkeit mit der »Zigeunerin« Mercédès auf der Bühne hatte: »So eine Schlampe!«
Ana, die russischstämmige Frasquita, die sich mit ihr eine Garderobe teilte, antwortete belustigt: »Ist Lieblingssopranistin, nicht?«
»Du weißt genau, wen ich meine. Was denkt sich die Roth eigentlich? Einen Wettbewerb gewinnen und gleich die internationale Spitze erreichen? Ich wurde in über zwanzig Wettbewerben platziert …«
Ana unterbrach sie. »Bist neidisch, Sandy. Pauline hat besonders Stimme.«
Einige Chorsänger waren inzwischen ebenfalls hereingekommen. Ein großer, dunkelhaariger, der gern mit Pauline flirtete, wenn sie sich begegneten, gesellte sich zu den Frauen. Er musste gehört haben, worüber sie sprachen, denn er sagte: »Ich habe sie mit Constantin Dumont gesehen.«
Wütend stampfte Sandy auf. »Das erklärt ja wohl alles. Der bezahlt ihr bestimmt auch die Stunden bei der Corliss. Es ist so ungerecht!«
Ana schüttelte den Kopf. »Sie singt wie Engel. Warum seid ihr neidisch auf Gottesgeschenk?« Damit wandte sie sich ab und ging mit schnellen Schritten davon.
Während sich Sandy und der Chorsänger an der Theke anstellten, verließ Pauline unbemerkt durch den Hintereingang die Kantine. Mit übler Nachrede hatte sie natürlich rechnen müssen, im Theater wurde immer getratscht. Aber es mit eigenen Ohren zu hören tat weh. Sie hatte dieser Sandy nichts getan, und trotzdem hallte der hasserfüllte Klang ihrer Stimme immer noch in ihr nach.
In der Garderobe zog sie ihr Probenkostüm an. Es bestand nur aus einem weiten Rock und ihrem eigenen, eng anliegenden T-Shirt. Um die extra für sie angefertigten Schuhe anzuziehen, setzte sie sich und wäre anschließend am liebsten nicht wieder aufgestanden. Eine merkwürdige Traurigkeit erfasste sie. Tränen brannten in ihren Augen.
Doch sofort fiel ihr Elenas Warnung ein: »Wer weint, kann nicht singen.« Also wischte sie sich mit dem Ärmel übers Gesicht und konzentrierte sich darauf, ihre Stimme für die Proben vorzubereiten. Dieses Mal gelang es ihr trotz der Yogaübungen nicht vollständig, sich zu entspannen. Nach Erlebnissen wie diesem fühlte sie sich oft so dünnhäutig, dass sie sich vor aller Welt verkriechen wollte. Constantin , flehte sie, ohne darüber nachzudenken, gib mir Kraft .
Allein an ihn zu denken tat gut, und so ging sie schließlich mit weniger bangem Herzen zur Bühne, wo bereits geprobt wurde. Aus der Kabine des Inspizienten fiel Licht auf die Seitenbühne, und sie sah, dass Escamillo auch schon da war. Da Pauline dessen beißende Kommentare jetzt nicht hören wollte, ging sie so leise wie möglich hinter den Kulissen entlang, um die andere Seite der Bühne zu erreichen. Die Hinterbühne war ziemlich vollgestellt, und nur die Notlichter über den Türen gaben eine gewisse Orientierung. Aber diese Dunkelheit tat ihr im Augenblick gut … bis sie gegen etwas Weiches stieß. Es gelang ihr gerade noch, einen erschrockenen Laut zu unterdrücken, da fühlte sie sich von zwei starken Armen
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