Gib mir deine Seele
durch die Noten, die sich auf dem Flügel stapelten. Sie würde jemanden im Hotelbüro bitten, ihr die schwere Tasche nach Hamburg schicken zu lassen.
Keine Chance, dass ich das alles als Handgepäck mitnehmen kann.
Nach einer einsamen Nacht verließ sie am folgenden Tag das Hotel in Richtung Oxford Circus. Vor dem Arzttermin wollte sie noch ihre Freundin Myrah besuchen, die auch eine der bedürftigen Stammgäste im White Lion gewesen war, bevor sie etwas Geld geerbt und ein Atelier in Shoreditch eröffnet hatte.
Unterwegs kaufte Pauline eine große Flasche Wasser und ließ sich vom schnellen Puls der Stadt treiben. So schön es sich auch in Barcelona lebte, London war ihre Stadt. Das wurde ihr merkwürdigerweise genau in dem Augenblick bewusst, als ein fernes Rumpeln die Ankunft der nächsten U-Bahn ankündigte. Nicht ohne Grund wurde die Underground von den Londonern auch liebevoll Tube genannt. Es begann mit einem warmen Lufthauch, dessen Geruch ihr so vertraut war, dass er etwas Heimatliches hatte. Pauline blickte in den dunklen Tunnel, ihre Haare hoben sich langsam im stärker werdenden Wind. Als die Lichter der Bahn auftauchten, flatterte ihre leichte Jacke, und sie hatte Mühe, den weiten Rock so festzuhalten, dass er nicht hochwehte. Dann war der Zug da, bremste, und bevor er zum Stillstand kam, hatte sich der Sturm wieder gelegt. Die Türen öffneten sich, Menschen strömten heraus, andere stiegen ein, mit ihnen Pauline. Auf dem Bahnsteig erinnerten die Durchsagen daran, kein Gepäck liegen zu lassen und die Türen frei zu halten. Darauf folgte der obligatorische Warnton, und der Zug rumpelte los.
An der vierten Station wechselte sie in die Overground und ging, nach einer guten halben Stunde Fahrtzeit in Shoreditch angekommen, die High Street entlang, von der sie schließlich in die Calvert Avenue einbog, wo Myrah zwischen einem eleganten Schuhgeschäft, das erst kürzlich eröffnet hatte, und einem Pub ihr kleines Schmuckatelier betrieb. Der Stadtteil hatte sich in den letzten Jahren sehr verändert. Die alten Backsteingebäude wirkten gepflegt, längst gab es keine bezahlbaren Wohnungen mehr, und es hieß bereits, Shoreditchs beste Tage seien vorüber, denn die Künstler und Hipster waren weitergezogen. Ein Besuch des Brick Lane Markets allerdings lohnte sich immer noch.
Die jungen Leute, die sich gegenüber vor der St. Leonard’s Church auf dem Rasen sonnten und ihre Mittagspause genossen, ahnten möglicherweise nicht einmal, welche Kostbarkeiten in der Werkstatt im hinteren Teil des Ladens entstanden. Myrah, die als Kind aus Barbados nach London gekommen und hier im Ostteil der Stadt aufgewachsen war, fertigte Einzelstücke an. Viele auf Bestellung, und deshalb war Pauline hier. Sie wollte einen Ring oder vielleicht einen Anhänger für Constantin kaufen. Etwas, das zu dem Silberschmuck passte, den er besaß, und das gleichzeitig einen Bezug zur Kette herstellte, mit der er sie an sich »gebunden« hatte.
Myrah sah auf, als Pauline den Laden betrat, erkannte sie und fiel ihr um den Hals. »Du bist in London! Wie geht es dir? Dein David hat erzählt, du wärest jetzt in Barcelona und irre erfolgreich.«
»Er ist nicht mein David.« Pauline war überrascht. »Wie kommst du darauf?«
»Nein? Merkwürdig. Neulich war er mit einem Stylisten hier, um sich Schmuck für eine Modestrecke in der Marie Claire anzusehen. Dabei hat er von fast nichts anderem als von dir gesprochen. Es klang wirklich danach, als würdet ihr zusammen sein.«
»Ich habe einen Freund. David war zwar in Barcelona, aber ich habe ihn nur dreimal gesehen.« Dass er sich dabei mindestens einmal nicht gerade vorbildlich verhalten hatte, verschwieg sie. »Aber genug von mir. Wie geht es dir? Was das Geschäft macht, muss ich wohl gar nicht fragen. Marie Claire , wow!«
»In der GQ war ich auch schon. Es ist so toll! Sieh mal, ich habe eine kleine Kollektion entworfen.« Aufgeregt schob sie Pauline zu einer Vitrine. »Eine Boutique in Los Angeles hat die Teile in Kommission genommen, und jetzt kann ich mich vor Aufträgen kaum noch retten. Ich habe schon jemanden einstellen müssen, der mir hilft.«
Die massiv silbernen Schmuckstücke waren in der Tat außergewöhnlich. »Ich wüsste gar nicht, wofür ich mich entscheiden sollte«, sagte sie. »Die Kollektion ist fantastisch!« Dann aber schwand ihre Begeisterung. »Heißt das, du fertigst keine Auftragsarbeiten mehr?«
»Ach was. Natürlich mache ich das noch. Es ist das Schönste
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