Gideon Crew 01 - Mission - Spiel auf Zeit
Mandarin.
Nach einem Augenblick lockerten die Wachleute widerstrebend ihren Griff. Erst trat der eine, dann der andere einen Schritt zur Seite.
»Kommen Sie herein«, sagte die alte Frau und machte eine einladende Handbewegung. »Kommen Sie herein, sofort.«
Gideon blickte von den Wachleuten zur Frau und beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen. Sie führte ihn ins Haus und ging ihm voran in den Salon.
»Bitte. Setzen Sie sich. Tee?«
»Ja, bitte«, sagte Gideon und rieb sich die Arme, dort, wo die Wachleute ihn gepackt hatten.
Ein Diener erschien in der Tür. Madame Chung sprach kurz mit ihm, woraufhin er sich zurückzog.
»Entschuldigen Sie das Benehmen meiner Wachleute«, sagte sie. »Das Leben ist im Moment ziemlich gefährlich für mich.«
»Warum?«, fragte Gideon.
Die Frau lächelte nur.
Der Diener kehrte mit einer kleinen gusseisernen Teekanne und zwei winzigen runden chinesischen Tassen zurück. Während sie einschenkte, ergriff Gideon die Gelegenheit, die Frau eingehend zu betrachten. Sie war in der Tat die alte Dame auf dem Überwachungsvideo – und er empfand eine Art Ehrfurcht in ihrer Gegenwart, als er an die lange, seltsame Entdeckungsreise dachte, die ihn hierhergeführt hatte. Und doch, leibhaftig kam sie ihm völlig anders vor. Sie verströmte eine Art Lebensenergie, die das körnige Video vom Flughafen nicht hatte einfangen können. Er bezweifelte, je im Leben einen lebendigeren, energiegeladeneren älteren Menschen kennengelernt zu haben. Sie war wie ein kleiner Vogel, aufmerksam, aufgeweckt, heiter.
Sie reichte ihm eine der Tassen, dann faltete sie – nachdem sie sich auf den Stuhl ihm gegenüber gesetzt hatte – die Hände auf den Knien und musterte ihn derart durchdringend, dass er fast rot wurde. »Wie ich sehe, wollen Sie mich etwas fragen.«
Gideon antwortete ihr nicht sogleich. Seine Gedanken rasten. Er hatte sich natürlich mehrere Geschichten ausgedacht, mehrere mögliche erfundene Szenarien, um ihr die Informationen zu entlocken. Doch als er nun Madame Chung von Angesicht zu Angesicht gegenübersaß, wurde ihm klar, dass sie keine war, die sich leicht an der Nase herumführen ließ. Von nichts. All seine sorgfältigen Lügengebilde, seine Intrigen, seine Tricks und Strategien und Betrügereien lösten sich ganz plötzlich in Luft auf. Er hatte auf eine merkwürdige Weise Angst; er wusste nicht, was er sagen sollte. Hektisch suchte er nach einem besseren Gespinst aus Lügen und Halbwahrheiten, einem glaubwürdigen Märchen, das er ihr auftischen könnte, und erkannte doch im selben Moment, dass es vergebliche Liebesmüh war.
»Sagen Sie mir einfach die Wahrheit«, sagte sie und lächelte, als lese sie seine Gedanken.
»Ich …« Er durfte jetzt keinesfalls weiterreden. Wenn er ihr die Wahrheit sagte, wäre alles verloren. Und jetzt wurde er wirklich rot vor Verwirrung.
»Lassen Sie mich Ihnen also einige Fragen stellen.«
»Ja, gern«, sagte er, ungeheuer erleichtert.
»Wie heißen Sie?«
»Gideon Crew.«
»Wo kommen Sie her und was machen Sie beruflich?«
Er zögerte, suchte erneut nach einer passenden Lüge, doch vielleicht zum ersten Mal im Leben fiel ihm nichts ein. »Ich lebe in New Mexico und arbeite in den National Labs in Los Alamos.«
»Ihr Geburtsort?«
»Claremont, Kalifornien.«
»Und Ihre Eltern?«
»Melvin und Doris Crew. Beide verstorben.«
»Und der Grund, weshalb Sie hier sind?«
»Mein Sohn Tyler wird in diesem Herbst in Throckmorton in Jies Klasse gehen …«
Sie verschränkte die Arme. »Entschuldigen Sie«, unterbrach sie ihn leise und musterte ihn aus ihren hellen, dunklen Augen. »Aber ich halte Sie für einen berufsmäßigen Lügner, dem soeben die Lügen ausgegangen sind. Das glaube ich.«
Er wusste keine Antwort darauf.
»Also, wie ich schon sagte, warum probieren Sie es nicht zur Abwechslung einmal mit der Wahrheit? Vielleicht bekommen Sie dann ja genau das, was Sie haben wollen.«
Ihm war, als habe ihn die alte Frau in eine Ecke gedrängt. Er saß in der Falle, konnte nicht fliehen. Wie war das passiert?
Sie wartete, die Hände gefaltet, lächelnd.
Was zum Teufel
. »Ich bin eine … eine Art Spezialagent.«
Ihre sorgfältig nachgezogenen Augenbrauen ruckten nach oben.
Er holte tief und erschauernd Luft. Jetzt musste er mit der Wahrheit herausrücken, und auf merkwürdige Weise war er erleichtert. »Mein Auftrag lautet, herauszufinden, was Mark Wu in dieses Land gebracht hat, und es an mich zu bringen.«
»Mark Wu. Ja,
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