Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
gezeichnet, viel Schlaf hatte er in der vergangenen Nacht offenbar nicht gefunden. Neben ihm saß sein Anwalt Claudio Boccachi. Als Dossantos von Hirschfeldt und Harenstett in der Menge ausmachte, lächelte er.
»Glaubt er immer noch, dass er heil aus der Sache rauskommt?«, murmelte Harenstett.
»Lassen wir ihn in dem Glauben.«
»Haben Sie mit dem Richter gesprochen?«
»Gestern Abend noch, nach unserer netten Unterredung mit ihm.« Er nickte in Richtung des Portugiesen.
»Was haben Sie ihm gesagt?«
»Dass einiges von diesem Fall abhängt, für Sie, für mich …«
»… und auch für ihn«, fügte Harenstett hinzu.
»Ich denke, er hat mich verstanden.«
Die Anwesenden erhoben sich von den Plätzen, als Richter Süshelm in schwarzer Robe den Saal betrat. Er rümpfte die Nase über den Trubel und pochte mit dem Hammer entnervt auf sein Pult. »Ruhe, bitte.« Er wurde lauter. »Darf ich unverzüglich um Ruhe bitten!«
»Warum ist er so gereizt?«, fragte Harenstett.
»Ich weiß nicht.«
»Ich dachte, er wäre froh, es endlich mit einem großen Fall zu tun zu haben.«
»So recht scheint ihm die große Anteilnahme der Öffentlichkeit nicht zu behagen.«
»Wollen wir hoffen, dass die Sache nicht eine Nummer zu groß für ihn ist.«
Der Richter eröffnete die Anhörung, indem er dem Staatsanwalt das Wort erteilte: »Der Angeklagte hat sich der Veruntreuung und Steuerhinterziehung schuldig gemacht, außerdem der Bestechung und Erpressung in mehrfachen Fällen. Er hat in überheblicher Weise Macht ausüben wollen und sich dabei auch zum Herrn über Leben und Tod aufgeschwungen.« Der Staatsanwalt machte eine kurze, umso wirkungsvollere Pause. »Das ist Mord aus niedrigen Beweggründen.«
Ein Raunen ging durch das Publikum, und der Richter brauchte einige Sekunden, bis er wieder Ruhe hergestellt hatte.
Dossantos’ Anwalt hielt dem entgegen: »Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft entbehren jeder Grundlage. Mein Mandant steht mitten im gesellschaftlichen Leben dieser Stadt. Er engagiert sich für eine Vielzahl sozialer Projekte. Die Presse nennt ihn einen Ehrenbürger, der die sozial schwachen Mitglieder unserer Gesellschaft unterstützt. Es ist absurd, zu behaupten, er habe es nötig, sich auf illegale Art und Weise Einfluss zu verschaffen.«
»Wir können jeden Punkt der Anklageschrift belegen, jeden einzelnen«, widersprach der Staatsanwalt.
Der Richter schaute von seinem Sessel hinab. »Welche Beweise gedenken Sie anzuführen?«
»Wir haben einen Zeugen, der über Jahre hinweg detaillierten Einblick in die Machenschaften des Angeklagten hatte.«
»Wo ist dieser Zeuge?«
»Aus verständlichen Gründen heute nicht hier. Aus der Erfahrung vorangegangener Prozesse müssen wir Gefahr für Leib und Leben annehmen …«
»Das ist unerhört!«, rief Boccachi aus.
»… weshalb der Zeuge vorerst bis zur Hauptverhandlung in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurde. Bis dahin beantragen wir angesichts der Schwere der Schuld und auch weil wir beim Angeklagten Verdunklungsgefahr befürchten, eine Fortsetzung der Untersuchungshaft.«
»Einspruch!«, rief Boccachi. »Mein Mandant ist ein Mann, der seit mehr als einem Vierteljahrhundert in Berlin verwurzelt ist. Berlin ist sein Lebensmittelpunkt, beruflich genauso wie privat. Er ist verheiratet, hat eine Familie, einen Sohn … Entschuldigen Sie bitte, er hatte einen Sohn, der erst vor zwei Tagen tragisch ums Leben gekommen ist. Und wie ich schon sagte, er steht mitten im gesellschaftlichen Leben, ist in …«
»Ja, das sagten Sie bereits«, unterbrach ihn der Richter unwirsch. »Ich habe also zu befinden, ob die von der Staatsanwaltschaft genannten Anklagepunkte ausreichen, um den Angeklagten weiterhin in Haft zu behalten.« Süshelm räusperte sich. Dann schien er es plötzlich eilig zu haben, und die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus: »Ich befürchte, ich muss den Ausführungen der Verteidigung folgen. Der Angeklagte hat mit Familie und Beruf seinen Lebensmittelpunkt in Berlin, ist im gesellschaftlichen Leben engagiert und hoch geachtet. Der Haftbefehl wird daher gegen die Zahlung einer Kaution in Höhe von 100000 Euro bis zur Gerichtsverhandlung ausgesetzt. Außerdem wird Herr Dossantos seinen Pass abgeben und sich zweimal wöchentlich bei der Polizei melden.«
Ein Tumult brach im Saal aus, in dem die Frage des Richters unterging. Nur die Antwort von Boccachi war durch den Lärm zu vernehmen: »… legt keine Beschwerde gegen die Entscheidung
Weitere Kostenlose Bücher