Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
etwas geschah nicht aus Versehen, nicht an einem Ort wie diesem.
Kalkbrenner zuckte zurück. Es waren nicht ihre Finger in seinem Schritt, sondern die sich in seiner Hose wölbende eigene Erregung, die ihn schockierte.
Es war viel Zeit vergangen, seit er das letzte Mal mit einer Frau geschlafen hatte. So verdammt viel Zeit. Und jetzt dieses Schauspiel vor ihm. Die sich hemmungslos wiegende Christin auf dem nackten Körper ihres Freundes. Katrin an seiner Seite, mit einer unverhohlenen Offerte. Es war verlockend. So einfach …
Plötzlich fühlte Kalkbrenner sich schuldig. Seine Mutter vegetierte zur Stunde auf der Intensivstation der Charité vor sich hin, dem Tod näher als dem Leben. Seine Tochter war stinksauer auf ihn, weil sie glaubte, er würde ihre Mutter betrügen. Judith vertraute darauf, dass er den Mörder ihres Mannes fand. Und was tat er? Er trieb sich in diesem Etablissement herum.
Es ist dienstlich.
Allerdings war er drauf und dran, jeglichen Gedanken an die Arbeit zu vergessen. In dieser Umgebung war es zu einfach, alle Alltagssorgen abzustreifen. War es das, was Brodbeck hier gesucht hatte? Zerstreuung?
Kalkbrenner entschied, dass er genug gesehen hatte. Er verabschiedete sich überhastet von Katrin, lief zügig die Treppe nach oben und kleidete sich um. Sybill war noch immer im Empfangsraum. Als er an ihr vorbeilief und für den Anzug zahlte, überkam ihn das Bedürfnis, sein schlechtes Gewissen zu besänftigen. »Kennst du Matthias Brodbeck?«
Doch die Frage war genauso naiv wie unbeholfen.
Es überraschte ihn nicht, dass Sybill sagte: »Nein. Unsere Gäste bleiben gerne anonym.«
»Mhm.«
»Und selbst wenn ich ihn kennen würde, ich würde es dir nicht sagen.« Erneut schenkte sie ihm einen verführerischen Augenaufschlag. »Unsere Gäste wünschen nämlich auch Diskretion.« Sie lächelte.
99
Die Tacho-Nadel vibrierte bei 150. Erlaubt waren 80. Trotzdem raste Kalkbrenner über die Avus nach Hause. Als könnte er auf diese Weise den aufwühlenden Bildern vor seinem inneren Auge entkommen.
Nach dem Unwetter hatte sich der Himmel wieder aufgeklärt. Eine Sternschnuppe huschte über die Autobahn hinweg. Kalkbrenner umklammerte das Lenkrad, bis seine Knöchel unter der Haut weiß hervorschimmerten, und konzentrierte sich auf einen Wunsch. Nur auf welchen? Dass er sich mit Jessy wieder verstand? Ja, das war ein guter Wunsch.
Es war 1.30 Uhr, als Kalkbrenner vor seinem Haus parkte. In der Diele streifte er die Jacke ab, doch die Erregung konnte er nicht so einfach beiseitelegen. Die Jacke war noch klebrig von dem verschütteten Champagner. Zudem haftete der Sand vom Steinboden aus der Umkleide daran. Er fand die Fotos seiner Mutter in der Tasche und legte sie auf den schmalen Sekretär. Nur das Polaroid blieb in der Jacke, die er an den Kleiderhaken hängte.
Ellen lümmelte inmitten ihrer unzähligen bunten Kissen auf dem Sofa. Sie hatte sich in eine Decke gekuschelt und guckte eine der Daily Soaps, die die Sender im Abendprogramm wiederholten. »Das ist heute aber sehr spät geworden.«
Kalkbrenner sank auf die Couch. Auf dem Tisch stand eine flackernde Kerze. Wie das nervöse fiebrige Flirren unter Kalkbrenners Haut.
Auf der Mattscheibe bemühte sich ein Pärchen, Romantik zu generieren. Doch die Vertrautheit der beiden Soap-Darsteller, deren glatte, straffe Kleidung wohl Erfolg suggerieren sollte, war so realistisch wie die Kulisse, vor der sie agierten: künstlich wie ein Ausstellungs-Schlafzimmer bei
IKEA
.
»Möchtest du was trinken?«, erkundigte sich Ellen.
Sie reichte ihm ihr Glas. Der Sekt schmeckte süß, besser als im
Dark Heaven.
Er trank fast das ganze Glas auf einmal aus, wobei er sich verschluckte. Die Kohlensäure sprudelte bis in seine Nase, quoll über seine Lippen und tropfte auf Hemd und Hose. Der Sekt löschte nur unwesentlich das Verlangen in seinem Unterleib.
Ellen sah ihn skeptisch an. »Was ist los mit dir?«
Wo sollte er anfangen zu erzählen? So viel war heute geschehen. Zu viel, um es in Worte zu fassen.
Im Fernsehen wurde das sich liebende Pärchen von einem Bekannten ertappt, was wenig überraschend eine Eifersuchtsszene heraufbeschwor. Die Frau brach in Tränen aus, während die Männer sich die Standardfloskeln an den Kopf warfen: »Es ist nicht so, wie du denkst.«
Kalkbrenner kam dieser Satz unangenehm bekannt vor. Er schaute weg. Vor der Couch entdeckte er Ellens schwarze Pantoletten. Er dachte daran, wie sich ihre zierlichen Füße in den
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