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Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)

Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)

Titel: Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Krist
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wollte, nein, musste er es versuchen. Ihm blieb nicht viel Zeit.
    Er stellte das Whiskeyglas auf den Tisch, schnappte sich die erstbeste Hose, die er fand, und zog sie an. Er schlüpfte in ein Hemd. Schuhe.
Und jetzt beeil dich!
Wenn er es rechtzeitig ins Treppenhaus schaffte, konnte er vielleicht aufs Dach gelangen. Der große Vorteil der Berliner Altbauten war, dass sie dicht an dicht standen und ihre Dächer nahtlos ineinander übergingen. Was einst zur Entlastung der Schornsteinfeger gedacht war, konnte für ihn jetzt die glückliche Rettung bedeuten.
    Er hastete quer durch das Apartment auf die Tür zu. Sein Bein sperrte sich gegen die schnellen Bewegungen. Er würde sich davon nicht unterkriegen lassen. Unerbittlich zog er es hinter sich her. Nur noch wenige Meter. Nur noch ein bisschen. Die Tür kam näher. Die Türklinke. Sicherheit.
    Plötzlich knickte sein lahmes Bein unter ihm weg. Es glitt einfach beiseite, so als würde es über eine Eisfläche rutschen.
    Block strauchelte, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Noch während er fiel, blickte er verwundert zu Boden. Das
Europäische Kartellverfahrensrecht (einschließlich Fusionskontrollverfahren)
schlitterte durchs Zimmer. Ausgerechnet ein Buch, ausgerechnet das, was er am besten beherrschte, das internationale Wirtschaftsrecht, brachte ihn zu Fall.
    Mit ausgestreckten Armen landete er auf den Fliesen. Knallte mit der Hüfte auf den kalten, harten Stein. Sofort versuchte er, sich wieder hochzustemmen. Vergeblich. Sein Arm knickte kraftlos unter ihm weg. Die Hand war verstaucht. Oder gebrochen. Aber es spielte keine Rolle mehr, denn in diesem Augenblick klopfte es an der Tür.

118
    In Kalkbrenners Schädel schrie eine Stimme:
Nein!
Es war die von Rita.
Das ist ein Fehler.
Aber dann waren da nur noch Wut und Trauer, Schmerz und Einsamkeit, Verzweiflung und Entsetzen. Alles zusammen riss die Mauern seiner Selbstbeherrschung ein und …
Judith braucht Trost,
beruhigte er sich.
Mehr nicht!
    Er belog sich selbst. Diesmal war er es, der sich nach Geborgenheit sehnte. Aber dafür hatte er sie nicht gleich zu küssen brauchen.
    Er sprang vom Sofa auf und lief hastig zur Tür. Frische, klare Nachtluft nahm ihn in Empfang. Die kleine Lichtung wurde nur spärlich vom Mond beschienen. Aus der Dunkelheit drang das Plätschern des Baches an sein Ohr. Auf dem brüchigen Rand des Brunnens ließ er sich nieder.
    Judith gesellte sich zu ihm. »Es tut mir leid, wenn ich …«
    »Nein, nein«, wehrte er ab.
    Sie setzte sich neben ihn. Das Meer aus Sternen kam ihm wie tausend aufmerksame Augen vor, die über jeden seiner nächsten Schritte wachten. Wenn er jetzt eine Sternschnuppe gesehen hätte, Kalkbrenner hätte nicht gewusst, was er sich wünschen sollte.
    »Woran denkst du?« Judiths Stimme drang an sein Ohr.
    Er hatte keine Ahnung.
    »An deine Familie?«
    »Meine Familie?« Erschrocken über die Schärfe in seiner Stimme hielt er den Atem an, aber die Worte waren gesprochen, ehe er über sie nachgedacht hatte. »Welche Familie? Meine Mutter stirbt. Meine Frau versteht mich nicht. Außerdem hat sie mich aus dem Haus geschmissen. Und meine Tochter redet kein Wort mehr mit mir.«
    »Etwa wegen gestern? Da war doch nichts.«
    Gestern vielleicht nicht.
Tausend Gedanken schwirrten durch seinen Schädel. Keiner war greifbar. Es war ein heilloses Durcheinander. Wie das Sternenchaos am Himmel.
    Er hatte Judith geküsst, zwar nur kurz, aber es hatte diesen Augenblick der Intimität gegeben, der weit über das tröstende Sich-im-Arm-Halten hinausging. Doch so intensiv er auch über die Situation nachdachte, es wollte sich kein schlechtes Gewissen einstellen. Vielleicht war gerade das der verwirrendste Gedanke von allen.
    »Siehst du die Sterne?«, fragte Judith.
    »Ja, den Großen Wagen.«
    »Den kannst du erkennen?«
    Sie rückte ganz nahe. Er roch erneut ihren Duft. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, trotzdem zeigte er ihr das Sternbild. »Meine Mutter hat es mir erklärt, als ich noch ein kleiner Junge war.«
    Auch der Gedanke an Käthe Maria stimmte ihn nicht mehr traurig. Judiths Nähe gab ihm Kraft. Sie flößte ihm Mut ein, eine Gabe, die er schon damals an ihr bewundert hatte. Egal wie schlecht es ihr selbst gegangen war; immer hatte sie noch ein Lächeln für ihn aufgebracht.
    In diesen Sekunden lebte er plötzlich ganz in der Gegenwart.
    Wieder schaute er zu Judith. Im Dunkel der Nacht konnte er ihre Augen nur schemenhaft erkennen. Er wusste, dass sie blau

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