Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
stellen. »Ja, du hast recht.«
Er küsste sie auf den Mund, nur eine kurze Berührung ihrer Lippen.
»Muss ich jetzt zurück in die Berliner Wohnung?«, fragte sie.
»Nein, das halte ich für keine gute Idee.«
»Wohin dann?«
»Das muss ich mit meinen Kollegen besprechen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie du beschützt werden kannst. Bis dahin bleibst du hier.« Er fegte ihren unausgesprochenen Einwand mit einer Handbewegung beiseite. »Nur bis zum Nachmittag. Das ist schon in Ordnung.«
Der Hund drückte sich an ihn. »Ich würde Bernie gern hier bei dir lassen.«
Judith streichelte den Bernhardiner. »Mein Wachhund.«
»Na ja, es ist fraglich, wer hier wen beschützt.«
Kalkbrenner sprang unter die Dusche. Als er zurückkehrte, stand die Tür zur Lichtung offen. Judith saß nackt auf den Steinen am Brunnen, Bernie hockte neben ihr. Fasziniert verfolgte er, wie sie Papiere aus ihrer Handtasche holte und sie in kleine Stücke zerriss. Die Fetzen flatterten fast fröhlich in die Tiefe hinab, aber Judiths Blick war alles andere als heiter.
Die Natürlichkeit, mit der Judith dem anbrechenden Morgen ihre Blöße präsentierte, nahm auch Kalkbrenner die Hemmungen, und er ging zu ihr: »Was machst du da?«
»Ich will das Thema endgültig beenden.« Grimmig hielt sie ihm verschiedene Fotos hin. Ihr Mann. »Es ist Zeit für einen Neuanfang.«
Er nahm ihr eins der Bilder aus der Hand. »Kann ich das haben?«
»Wozu?«, fauchte sie. Noch bevor er etwas erwidern konnte, lenkte sie schon wieder ein. »Entschuldige. Du machst nur deinen Job. Es ist das, was du am besten kannst. Das verstehe ich. Und ich vertraue dir. Aber ich will nichts wissen. Nichts davon möchte ich mehr wissen.«
Über ihre Köpfe zog ein Flugzeug seine Bahn. Es hinterließ einen breiten weißen Kondensstreifen quer über dem Himmel, der gleich darauf in den Höhenwinden zerstob. Nach wenigen Sekunden war nichts mehr übrig, außer einem großen, blauen Nichts, das mit neuem Leben gefüllt werden wollte.
Judith blinzelte in der Sonne. Sie war klug. Schön. Begehrenswert. Sie war ihm so vertraut. War sie
sein
Neuanfang, den Kalkbrenner sich so lange ersehnt hatte?
Als hätte er seinen Gedanken ausgesprochen, umschlang ihn Judith und presste sich fest an ihn, als wollte sie ihn nie wieder loslassen.
124
Der Mann in dem Anzug fühlte sich unwohl in seiner Haut. Dementsprechend pampig reagierte er. »Sie wissen doch, dass man uns nicht gemeinsam sehen darf.«
Miguel Dossantos wies mit seiner Hand durch den muffigen Raum. »Und? Uns sieht hier doch keiner.«
»Und was ist mit dem Alten da?« Der Mann zeigte auf eine zerlumpte Gestalt, die sich an ein verrostetes, verkohltes Etwas lehnte, das nur noch mit viel Wohlwollen als Küchenherd zu identifizieren war.
»Pedro?« Dossantos stieß ein kehliges Lachen aus. »Pedro ist halb blind, fast taub und hat die letzten zehn Jahre keine Zeitung mehr gelesen. Er würde Sie eher für den Papst halten als für einen …«
»Seien Sie ruhig«, schnauzte der Mann. Er blieb in der Zimmermitte stehen, zog seinen Anzug eng an den Körper und vermied es, auch nur einen Millimeter näher an Pedro, den Ofen oder einen anderen Schmutzherd zu gelangen. »Was macht er hier?«
»Pedro wohnt hier.«
»Hier lebt doch keiner. Der Spreepark ist stillgelegt.«
»Damit haben Sie recht«, bestätigte Dossantos.
Aber nur halb,
fügte er in Gedanken hinzu.
Der Spreepark war ein Freizeitpark im Plänterwald, idyllisch an der Spree gelegen. Einst, zu DDR-Zeiten, war er mit seinen Attraktionen ein sehr beliebtes Ausflugsziel gewesen. Nach der Wende hatte der Parkbetreiber allerdings nicht die Kurve vom subventionierten VEB-Spaßpark in Ostberlin hin zum privatwirtschaftlichen Touristenvergnügen gekriegt.
Ende des Jahrtausends hatte er bei der Berliner Verbandsbank hoffnungslos in der Kreide gestanden. Das war die offizielle Verlautbarung in der Presse gewesen. Tatsächlich hatte er auch Dossantos einen Haufen Geld geschuldet. Das war wohl der eigentliche Grund gewesen, warum er sich 2001 von einem Tag auf den anderen ins Ausland abgesetzt hatte.
Es war Dossantos’ Nähe zu Dr. Sebastian Pfeiffer gewesen, dem Vorstandsvorsitzenden der Verbandsbank, die es ihm ermöglicht hatte, in letzter Sekunde die Looping-Achterbahn und eine Kopfüber-Schiffschaukel an fahrende Schausteller verscherbeln zu können. Das hatte ihm zumindest einen Teil des Geldes eingebracht, noch bevor der Park endgültig in die Insolvenz
Weitere Kostenlose Bücher