Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
Sie also das Vertrauen Ihrer Klienten missbrauchen.«
Der Therapeut massierte seine Finger, als würde er sich auf einen schweren Ringkampf vorbereiten. »Die meisten Klienten kommen zu mir in Behandlung, weil sie unter Stress stehen. Es gelingt ihnen nicht mehr, diesen zu bewältigen.«
Winkels verfiel wieder in Schweigen.
»Was sind die Folgen?«, bohrte Kalkbrenner nach.
Winkels knetete die Hände. »Typische Symptome sind Angstzustände und Panikattacken, die in schwereren Fällen zu chronischen Depressionen werden können.«
»Neigen die Klienten dabei zu Übertreibungen?«
Der Therapeut verknotete seine Finger ineinander, löste sie, verschränkte sie wieder. »Ja, es ist durchaus denkbar, dass die Klienten auf eine, ich sage mal, alltägliche Stresssituation entschieden heftiger reagieren, als sie es normalerweise tun würden.«
»Ich verstehe«, sagte Kalkbrenner, und das tat er tatsächlich. »Wäre es möglich, dass Sie eine reale Bedrohung Ihrer Klienten verkennen, weil Sie glauben, sie übertreiben?«
»Auf keinen Fall, nein«, wehrte der Therapeut entsetzt ab und fuchtelte jetzt mit seinen spindeldürren Fingern herum. »Da für meine Klienten die Gefahr real ist, muss auch ich sie ernst nehmen: Arbeit, Konflikte, Druck, Überbelastung. Der Umgang mit Stress ist ja die Ursache für die Symptome wie Angst, Panik oder Depression. Verstehen Sie?«
»Ich glaube schon.«
»Ich helfe meinen Klienten dabei, neue Bewältigungsmöglichkeiten zu entwickeln, mit denen Sie sich der Arbeit, den Konflikten und dem Stress wieder stellen können. Wenn sie diese Möglichkeiten anwenden, spüren sie, dass ihre Angst und Panik unbegründet waren. Dass keinerlei Bedrohung davon ausging. Dass diese Bedrohung niemals wirklich existierte, sondern nur … in ihrem Kopf.«
»Trotzdem war die Gefahr im Falle von Herrn Brodbeck nicht nur in seinem Kopf vorhanden.«
»Geschickter Versuch, Herr Kommissar.«
»Kommen Sie, Herr Winkels. Matthias Brodbeck war bei Ihnen in Behandlung, also hat ihn etwas belastet.«
»Alle meine Klienten belastet etwas.«
»Wir reden über Herrn Brodbeck, der dem Stress nicht mehr gewachsen war.«
»Nein, wir reden nicht über Herrn Brodbeck. Das darf ich nicht, und dazu werden Sie mich auch nicht verleiten. Ich kann Ihnen nur so viel sagen: Viele meiner Klienten fühlen sich dem Stress nicht gewachsen.«
»Können Sie ihnen helfen?«
»In den meisten Fällen.«
»Aber nicht Herrn Brodbeck.«
»Doch«, rutschte es dem Therapeuten heraus. Sein Oberkörper machte einen plötzlichen erschrockenen Satz; sein schütteres Haar fiel ihm ins Gesicht. Mit einer fahrigen Handbewegung strich er es beiseite. »Sagen wir mal so: Die Therapie war beendet. Und ich hatte nicht den Eindruck, dass unsere Bemühungen vergebens gewesen waren.«
»Sondern?«
Winkels rieb sich die Finger. »Ach, Herr Kommissar, bitte, wollen Sie mich wirklich in einen moralischen Zwiespalt bringen?«
Kalkbrenner ging nicht darauf ein. »Also, haben Sie ihm helfen können?«
Der Therapeut knirschte mit den Zähnen. »Ich bin bei nahezu jedem meiner Klienten der Überzeugung, dass wir über kurz oder lang an unser Ziel kommen werden. Allerdings …« Wieder eine Pause. Erneut bearbeitete er seine Finger. »Zur Therapie gehört es auch, dass ich mit den Klienten rede.« Er hielt einen Moment inne. »Das Gespräch ist quasi das Medium, in dem wir versuchen, Bewältigungsmöglichkeiten, neue Sichtweisen, Denkweisen und daraus resultierend auch Verhaltensweisen zu erarbeiten. Wenn Sie so wollen: Im Reden liegt die Heilung.«
»Verstehe.«
»Natürlich ist damit die Therapie nur bedingt erklärt. Wir reden nicht einfach nur blindlings drauflos. Wir reden über die Krankheit und nähern uns dadurch deren Ursachen.«
»Zum Beispiel Stress mit Schülern?«
»Kein Kommentar.«
»Mhm.«
»Aber als Therapeut höre ich natürlich nicht nur, was meine Klienten mir sagen, ich achte auch darauf, wie sie es sagen.«
»Und wie sagen sie es?«
»Sie reden über ihre Krankheit und deren Ursachen, manchmal sehr direkt, als wüssten sie ganz genau, woher die Probleme kommen, nur haben sie eben noch keinen Weg gefunden, der ihnen hilft, damit umzugehen. Manchmal spüre ich, dass sie mir etwas verschweigen. Zum Beispiel andere Probleme, die sie beschäftigen, die mit ihrer eigentlichen Krankheit, wegen der sie zu mir gekommen sind, nichts zu tun haben.«
»Dennoch belasten sie die Probleme«, warf Kalkbrenner ein, »und sie steigern
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