Gier, Kerstin
wirklich sicher sind, dass du
auf unserer Seite bist.« Ich wollte nach meiner Tasche greifen, aber sie war
nicht da. Ärgerlich schnalzte ich mit der Zunge. »Mist! Meine Mum hat vorhin
beim Aussteigen meine Tasche genommen.«
Von
irgendwoher erklang die Melodie von Some guys
finish last. Ich musste lachen. »Das ist doch nicht etwa ...?«
Ȁhm ...
doch. Nicht passend?« Gideon fischte sein Handy aus der Hosentasche. »Also,
wenn das Marley ist, werde ich ihn ... oh! Meine Mutter.« Er seufzte. »Sie hat
ein Internat für Raphael ausfindig gemacht und will, dass ich ihn überrede,
dorthin zu gehen. Ich ruf sie nachher zurück.«
Das Handy
hörte nicht auf.
»Geh ruhig
dran«, sagte ich. »Ich hole in der Zwischenzeit noch mal schnell das Buch.«
Ich
spurtete los, ohne seine Antwort abzuwarten. Wahrscheinlich würde Mr Marley
unten im Keller ausflippen, aber das war jetzt auch egal.
Die Tür
zum Drachensaal stand einen Spaltbreit offen und schon von Weitem hörte ich die
aufgeregte Stimme meiner Mum.
»Was soll
das werden - ein Verhör? Ich habe meine Gründe bereits dargelegt - ich wollte
meine Tochter beschützen und hatte gehofft, dass Charlotte das Gen geerbt haben
würde. Mehr gibt es darüber nicht zu sagen.«
»Setzen
Sie sich wieder.« Das war unverkennbar Mr Whitman, in dem Ton, den er
ungezogenen Schülern gegenüber anschlug.
Stühle wurden
gerückt. Mehrstimmiges Räuspern. Ich schlich langsam näher.
»Wir
hatten dich gewarnt, Grace.« Falk de Villiers Stimme war eisig. Wahrscheinlich
starrte Mum gerade auf ihre Schuhe und fragte sich, warum zum Teufel sie sich
so eine Mühe mit ihrem Outfit gegeben hatte. Ich lehnte mich mit dem Rücken an
die Wand gleich neben der Tür, um besser lauschen zu können.
»Wie dumm
zu denken, dass wir die Wahrheit nicht herausfinden würden.« Dr. Whites
mürrische Stimme.
Von Mum
war nichts mehr zu hören.
»Wir haben
gestern einen Abstecher in die Cotswolds gemacht und eine gewisse Mrs Dawn
Heller besucht«, sagte Falk. »Der Name sagt dir doch etwas, oder?«
Als Mum
nicht antwortete, fuhr er fort: »Es handelt sich um die Hebamme, die geholfen
hat, Gwendolyn auf die Welt zu bringen. Da du die Miete ihres Ferienhäuschens
erst unlängst mit deiner Kreditkarte bezahlt hast, dachte ich eigentlich, du
würdest dich besser an sie erinnern können.«
»Lieber
Himmel, was habt ihr der armen Frau angetan?«, stieß Mum hervor.
»Nichts, natürlich.
Was denken Sie denn!« Das war Mr George.
Und Mr
Whitman, die Stimme triefend vor Sarkasmus, ergänzte: »Aber sie schien zu
glauben, dass wir irgendwelche satanischen Rituale mit ihr durchfuhren
wollten. Sie war völlig hysterisch und bekreuzigte sich in einer Tour. Und als
sie Jake gesehen hat, ist sie vor Angst beinahe in Ohnmacht gefallen.«
»Dabei
wollte ich ihr nur eine Beruhigungsspritze verpassen«, brummte Dr. White.
»Schließlich
hatte sie sich aber so weit abgeregt, dass wir eine einigermaßen vernünftige
Unterhaltung mit ihr führen konnten.« Das war wieder Falk de Villiers. »Und
dann hat sie uns die hochinteressante Geschichte von jener Nacht erzählt, in
der Gwendolyn geboren wurde. Klang ein bisschen wie ein Schauermärchen. Eine
wackere, leichtgläubige Hebamme wird zu einem in den Wehen liegenden jungen
Mädchen gerufen, das in einem kleinen Reihenhaus in Durham vor einer satanischen
Sekte versteckt wird. Die grausame Sekte - fixiert auf numerologische Rituale -
ist nicht nur hinter dem Mädchen her, sondern auch hinter dem Baby. Die Hebamme
weiß nicht genau, was man mit dem armen Würmchen vorhat, aber ihrer Fantasie
sind offenbar keine Grenzen gesetzt. Weil sie so ein gutes Herz hat und man ihr
obendrein eine nicht unerhebliche Bestechungssumme bezahlt - bei Gelegenheit
kannst du mir mal verraten, woher du das Geld hattest, Grace -, fälscht sie das
Datum auf der Geburtsurkunde des Kindes, nachdem sie ihm bei einer Hausgeburt
auf die Welt geholfen hat. Und sie schwört, niemals jemandem ein Wort davon zu
verraten.«
Eine Weile
lang war es still. Dann sagte Mum ein wenig trotzig: »Ja, und? Das ist doch
genau das, was ich euch bereits erzählt hatte.«
»Ja, das
dachten wir zuerst auch«, sagte Mr Whitman. »Aber dann stolperten wir über das
ein oder andere Detail der Erzählung.«
»Du warst
1994 fast achtundzwanzig - aber gut, in den Augen der Hebamme kannst du noch
als junges Mädchen durchgegangen sein«, fuhr Falk
fort. »Aber wer war dann die rothaarige besorgte Schwester der
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