Gier, Kerstin
abzuliefern.«
»Das
klingt ja so, als wollten Sie sie dem Haftrichter vorführen«, sagte ich. Hätte
ich gewusst, wie nah ich mit dieser Bemerkung an der Wahrheit war, hätte ich
wohl nicht so gut gelaunt im Fond Platz genommen.
Nachdem
Mum endlich fertig war, verlief die Fahrt nach Temple für Londoner Verhältnisse
zügig. Wir gerieten in nur drei Staus und waren bereits nach fünfzig Minuten da
und ich fragte mich wieder einmal, warum wir nicht einfach die U-Bahn nehmen
konnten.
Am Eingang
zum Hauptquartier begrüßte uns Mr George. Ich bemerkte, dass er ernster
dreinschaute als sonst und sein Lächeln irgendwie gezwungen ausfiel.
»Gwendolyn, Mr Marley begleitet dich zum Elapsieren hinunter. Grace, Sie
werden im Drachensaal erwartet.«
Ich sah
Mum fragend an. »Was wollen die denn von dir?«
Mum hob
die Schultern, aber sie wirkte plötzlich angespannt.
Mr Marley
zückte den schwarzen Seidenschal. »Kommen Sie, Miss«, sagte er. Er griff nach
meinem Ellenbogen, ließ ihn aber sofort wieder los, als er meinen Blick sah.
Mit zusammengekniffenen Lippen und feuerroten Ohren schnarrte er: »Folgen Sie
mir. Wir haben heute Mittag einen sehr engen Zeitplan. Ich habe den
Chronografen schon eingestellt.«
Ich warf
Mum noch ein ermutigendes Lächeln zu, dann stolperte ich hinter Mr Marley den
Gang hinunter. Er legte ein ungeheures Tempo vor und sprach dabei wie üblich
mit sich selber. An der nächsten Ecke wäre er in Gideon hineingerannt, wenn
der nicht geistesgegenwärtig ausgewichen wäre.
»Guten
Morgen, Marley«, sagte er lässig, während Mr Marley, reichlich verspätet,
einen ulkigen kleinen Hopser vollführte. Mein Herz ebenfalls, zumal sich auf
Gideons Gesicht bei meinem Anblick ein Lächeln ausbreitete, das die Ausmaße
des östlichen Gangesdeltas hatte. (Mindestens!)
»Hi,
Gwenny, gut geschlafen?«, fragte er liebevoll.
»Was
machen Sie denn noch hier oben? Sie sollten längst bei Madame Rossini sein und
eingekleidet werden«, polterte Mr Marley los. »Wir haben heute wirklich einen
sehr engen Zeitplan und die Operation Schwarzer Turmalin Schrägstrich Sa...«
»Gehen Sie
doch einfach schon mal vor, Marley«, sagte Gideon freundlich. »Ich komme mit
Gwenny in ein paar Minuten nach. Und anschließend bin ich im Handumdrehen umgezogen.«
»Sie sind
nicht be...«, begann Mr Marley, doch plötzlich war alle Freundlichkeit in
Gideons Blick verschwunden und er wurde so kühl, dass Mr Marley den Kopf einzog.
»Aber Sie dürfen nicht vergessen, ihr die Augen zu verbinden«, sagte er noch,
dann reichte er Gideon den schwarzen Schal und eilte mit langen Schritten
davon.
Gideon
wartete nicht, bis er außer Sichtweite war, er zog mich an sich und küsste mich
heftig auf den Mund. »Ich hab dich so vermisst.«
Ich war
sehr froh, dass Xemerius nicht dabei war, als ich »Ich dich auch« säuselte,
meine Arme um seinen Hals schlang und ihn leidenschaftlich zurückküsste. Gideon
drängte mich gegen die Wand und wir lösten uns erst voneinander, als neben mir
ein Bild von der Wand fiel. Ein Ölgemälde mit einem Viermaster auf stürmischer
See. Atemlos versuchte ich, es wieder an seinen Nagel zu hängen.
Gideon
half mir dabei. »Ich wollte dich gestern Abend noch anrufen, aber dann dachte
ich, dass deine Mutter recht hat - du brauchtest dringend Schlaf.«
»Ja,
brauchte ich tatsächlich.« Ich lehnte mich wieder mit dem Rücken gegen die Wand
und grinste ihn an. »Ich habe gehört, dass wir heute Abend zusammen auf eine
Party gehen.«
Gideon
lachte. »Ja - ein Viererdate, zusammen mit meinem kleinen Bruder. Raphael war
ganz begeistert, vor allem, als er erfahren hat, dass es Leslies Idee war.« Er
streichelte mit den Fingerspitzen über meine Wange. »Irgendwie hatte ich mir
unser erstes Date ja anders vorgestellt. Aber deine Freundin kann sehr
überzeugend sein.«
»Hat sie
dir auch verraten, dass es eine Kostümparty ist?«
Gideon
zuckte mit den Achseln. »Mich schockt nichts mehr.« Seine Fingerspitzen
wanderten meine Wangen hinab bis zu meinem Hals. »Wir hätten gestern Abend noch
so viel... äh ... zu besprechen gehabt.« Er räusperte sich. »Ich würde gern
alles über deinen Großvater erfahren und wie zur Hölle du es geschafft hast,
ihn zu treffen. Oder vielmehr wann. Und was hat es mit diesem Buch auf sich,
das Leslie immer in die Höhe gehalten hat wie den Heiligen Gral?«
»Oh, Anna
Karenina! Ich hab's dir mitgebracht, obwohl Leslie meinte, wir
sollten noch ein bisschen damit warten, bis wir
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