Gier
doch wohl ein eigenes Land«, erwiderte Dr. Hazel Mallory lächelnd.
»Also Tibet?«, fragte Hjelm und kam sich plötzlich ziemlich belesen vor.
»Ja, ich finde, er sieht tibetanisch aus. In meinem Viertel in Notting Hill gibt es ein auÃergewöhnlich gutes tibetanisches Restaurant, und er erinnert mich mehr an die Leute dort als an einen Chinesen.«
»Aber warum haben Sie das in Ihrem Bericht nicht erwähnt?«
»Das habe ich doch«, entgegnete Mallory und wirkte gekränkt.
Paul Hjelm spürte, dass er seine Stirn mit einer etwas dümmlich anmutenden Miene runzelte. Er fragte: »Sie haben nicht zufällig eine Kopie des Berichts?«
»Sie leben wirklich noch in einer anderen Zeit«, lächelte Dr. Hazel Mallory. »Es gibt keine Kopien mehr. Alles ist inzwischen elektronisch.«
»Könnten wir uns dann den Bericht vielleicht gemeinsam ansehen? Wenn es Ihnen nicht zu viele Unannehmlichkeiten bereitet.«
»Sie brauchen gar keine Höflichkeit vorzutäuschen. Ich weiÃ, dass Sie ein hochrangiger internationaler Polizeibeamter sind. Europol, nicht wahr?«
Hjelm nickte kurz.
»Aber deswegen sind Sie bestimmt nicht hergekommen«, sagte Mallory. »Sie wollen also, dass ich ihn obduziere? Und warum?«
»Ich bin vor allem an einem toxikologischen Bericht interessiert«, antwortete Hjelm.
Mallory nickte und fragte: »Irgendwelche speziellen Gifte, nach denen ich suchen soll?«
»Suchen Sie bitte nach Spuren von bromierten Flammschutzmitteln und perfluorierten Tensiden. Aber nach allem anderen ebenfalls.«
»Ich werde ihn wahrscheinlich nächste Woche in meinem Plan unterbringen können.«
Hjelm lächelte schwach und entgegnete: »Etwas schneller müsste es schon gehen. Ich bin wie gesagt ein hochrangiger internationaler Polizeibeamter bei Europol.«
»Möglicherweise sogar von der operativen Einheit, Europol?«, fragte Mallory mit einem Blick, der nahezu ehrfürchtig wirkte.
»Sie sind in der Tat eine Frau mit einer schnellen Auffassungsgabe«, sagte Hjelm. »Vielleicht sogar mit einer etwas zu schnellen. So wie ich die Sache verstanden habe, hat sich Commander Andrew Crowley Ihres absoluten Stillschweigens versichert. Oder liege ich da falsch?«
Dr. Hazel Mallory schloss für einen kurzen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war ihr Blick nahezu flehend.
»Sorgen Sie nun dafür, dass diese Obduktion als erste auf Ihrem Plan steht?«, fragte Hjelm unschuldig.
Mallory nickte eingeschüchtert. Paul Hjelm musste an Politik denken und spürte, wie leid er es war, von sich selbst angeekelt zu sein. Es bestand durchaus das Risiko, dass dies der erste Schritt zur Abstumpfung war. Zur ernsthaften Abstumpfung.
»Hätten Sie Lust, mir die andere Leiche ebenfalls zu zeigen?«, fragte er.
Mallory zog die Bahre hinter der Metallklappe daneben heraus, sodass die Köpfe von Zhang Sang und der Toten mit dem zerschlagenen Gesicht, also gewissermaÃen Jane Doe, nebeneinanderlagen. Es war, als begegneten sich ihre Blicke trotz der geschlossenen Augenlider für einen kurzen Moment. Als nähmen die beiden unidentifizierten Leichen Kontakt zueinander auf. Als schauten sie einander genau in dem Moment in die Augen, als ihre Körper ihr Leben aushauchten.
Hjelm und Mallory betrachteten Jane Doe. Das festgeklebte Laken war entfernt worden. Die Arme ausgestreckt. Das stark geschwollene Gesicht sah nahezu friedlich aus. Nahezu.
Paul Hjelm berührte ihre Gesichtshaut. Diese eigenartige Kälte. Dann berührte er Zhang Sangs entstelltes Gesicht ebenfalls. Er stand mit jeweils einer Hand auf der Wange der Toten da und spürte etwas, das jegliche Politik, alle Eitelkeit der Welt überstieg.
Wer wart ihr? Was hast du verbrochen, Jane Doe, um eine derartige Tortur zu verdienen? Und warum hat man dir, Zhang Sang, sämtliche Knochen in deinem Körper gebrochen?
Um sie herum wurde es still im Kühlraum. Paul Hjelm meinte zu spüren, wie noch einige letzte Blitze ihrer einstigen Willenskraft durch den Raum zuckten. Einer Willenskraft, die so stark gewesen war und so viel Widerstand geleistet hatte, dass die beiden sogar dem Tode trotzten und in gewisser Weise noch lebten. In diesem Augenblick gelobte sich Hjelm hoch und heilig, ihre Geschichten weiterzuerzählen. Koste es, was es wolle.
Er wusste nicht, wie lange er so dagestanden hatte, doch als er
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