Gift
halbe Welt zurückkam, sah er ganz passabel aus.
Weil es noch so früh am Tag war, spazierte er von seinem
Apartment am Rand von Chinatown die Powell Street hoch ins benachbarte
North Beach und setzte sich ins Caffè Trieste. Die Atmosphäre dort
mutete fast schon europäisch an, außerdem mochte er den starken Kaffee,
den sie dort anboten und den er in Paris zu schätzen gelernt hatte. Der
Cappuccino und das Croissant kamen zwar nicht ganz an das heran, was er
aus Paris gewohnt war, aber er ließ es sich trotzdem schmecken und las
dabei die Zeitung.
Um kurz vor zehn verließ er das Caffè Trieste und schlenderte
nach Chinatown zu Mr. Song's Many Chinese Herbs in der Pacific Street,
zwischen Kearny und Stockton. Unter dem Geläut der Türglocke betrat
Samuel den Laden, wo ihn Mr. Songs Gehilfe, ein Chinese in blauer Jacke
und gleichfarbiger Hose, mit einem zahnlosen Grinsen begrüßte. Das
Innere des Ladens war unverändert. Die Seitenwände wurden von bis zur
Decke reichenden Regalen mit erdfarbenen Töpfen eingenommen, und hinter
dem schwarzlackierten, mit chinesischen Szenen verzierten Ladentisch
türmten sich Reihen verschließbarer Kästchen. Die Luft war erfüllt vom
stechenden Geruch der Heilkräuter, die von Drähten herabhingen, die
unter der sechs Meter hohen Decke gespannt waren.
»Ist Mr. Song hier?«
Der Gehilfe bedeutete Samuel mit erhobener Hand, er solle
warten, und verschwand hinter einem blauen Perlenvorhang. Wenig später
teilten sich die Schnüre, und der Besitzer des Ladens erschien. Samuel
war jedes Mal von neuem verblüfft über die ungewöhnliche Erscheinung
Mr. Songs. Der alte Chinese war Albino. Er trug eine schwarze
Seidenjacke mit einem Mandarinkragen und eine schwarze Kappe, durch
seine Brille wirkten seine roten Augen wesentlich größer, als sie
tatsächlich waren. Er schien über Samuels Besuch nicht im Geringsten
überrascht, fast so, als hätte er die ganze Zeit gewusst, dass der
Reporter früher oder später wieder bei ihm auftauchen würde, um ihn um
Rat zu fragen. Er lächelte und verbeugte sich leicht.
»Ich brauche dringend Ihre Hilfe«, sagte Samuel.
Mr. Song hob die Hand und rief nach seinem Gehilfen. Nachdem
er sich kurz auf Chinesisch mit ihm unterhalten hatte, eilte der Mann,
begleitet vom Läuten der Türglocke, aus dem Laden.
»Nicht wieder rauchen?«, fragte Mr. Song und sah Samuel dabei
durchdringend an.
»Nein, schon fast ein Jahr lang nicht mehr, Mr. Song. Dank
Ihrer Hilfe. Das heißt, um ganz ehrlich zu sein, ein paarmal bin ich
rückfällig geworden. Ich will Ihnen nichts vormachen.«
Der alte Chinese hob einen langen weißen Finger, der aussah
wie eine Kerze, und sagte streng: »Nicht rauchen!«
Damit war das Gespräch beendet. Doch gleich darauf kam der
Gehilfe mit Mr. Songs Nichte zurück. »Hallo, Mr. Hamilton. Lange nicht
mehr gesehen. Aber wir wissen, dass Sie inzwischen ein bekannter
Reporter sind«, sagte sie lächelnd, wobei sie ihre kleinen Hasenzähne
entblößte.
»Wirklich?«, fragte Samuel errötend.
»Aber natürlich. Alle hier lesen Ihre Artikel. Sie werden ins
Chinesische übersetzt und in unserer Zeitung in Chinatown
veröffentlicht. Die Leute lassen sich keinen Ihrer Berichte entgehen,
vor allem dann nicht, wenn Sie über ein Verbrechen schreiben.«
»Ich habe gehört, dass Chinesen dafür ein ausgesprochenes
Faible haben. Der Grund, weshalb ich heute hier bin, ist übrigens, dass
ich deinen Onkel bitten möchte, mir bei einem Fall zu helfen, über den
ich gerade Nachforschungen anstelle.«
»Der Mord an diesem Armenier?«, fragte das Mädchen.
»Würdest du Mr. Song bitte fragen, ob ich mit ihm offen über
diesen Fall sprechen kann?«
Das Mädchen wechselte ein paar Worte mit Mr. Song, dann wandte
es sich wieder Samuel zu: »Mr. Song sagt, Sie haben Wort gehalten und
diese fürchterlichen Männer nicht mehr in seinen Laden mitgebracht.
Deshalb ist er bereit, sich anzuhören, was Sie zu sagen haben. Und dann
wird er entscheiden, ob er Ihnen helfen kann.«
»Ich recherchiere zurzeit über einen Mordfall, den Ihre Nichte
bereits kennt.« Samuel stützte die Ellbogen auf den schwarzen
Ladentisch und legte das Kinn in seine Hände. »Mein Freund Janak
Marachak ist Anwalt und verteidigt zwei Mexikaner, die beschuldigt
werden, einen bekannten armenischen Geschäftsmann umgebracht zu haben.
Nun hat ein krankhaft ehrgeiziger Assistant District Attorney
eingefädelt, dass in den Zeitungen des Contra Costa County lauter
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