Gift
du, ob sie meine Briefe erhalten hat?«
»Das darf ich dir nicht verraten. Rede besser selbst mit ihr.
Wie ich sie ausfindig gemacht habe, erzähle ich dir später. Befassen
wir uns lieber damit, was ich im Zusammenhang mit deinem Fall
herausgefunden habe.«
Er schilderte Janak, wie es dem Diener der Hagopians ergangen
war, nachdem diese aus Erzurum geflohen waren, und erklärte ihm, dass
die Hagopians deshalb vermutlich gar nichts von seinem Schicksal
wussten. »Seinen richtigen Namen wollte mir der Mann nicht sagen, aber
meine Kontaktleute in Paris glauben, herausfinden zu können, wer er
ist. Er nennt sich jetzt Hector Somolian.«
»Wen meinst du mit ›Kontaktleute‹?«, fragte Asquith.
»Kontaktleute eben, die mir Informationen beschaffen«,
antwortete Samuel.
»Wir sollten unbedingt herausfinden, wer Somolian so übel
mitgespielt hat«, sagte Janak. »Das könnte für den Prozess wichtig
sein.«
»Das war auch das Erste, was ich ihn gefragt habe«, sagte
Samuel. »Aber er wollte es mir nicht erzählen, weil er fürchtet, die
Leute, die ihn damals umzubringen versucht haben, könnten immer noch
hinter ihm her sein. Wir müssen also etwas Geduld haben. Zuerst
versuchen wir, seine wahre Identität herauszufinden, und dann werden
wir ihm eine Reihe von Fragen stellen.«
»Viel Zeit haben wir aber nicht«, sagte Janak, der sich die
ganze Zeit Notizen machte.
»Leider haben wir keine Möglichkeit, die Sache zu
beschleunigen. Wie gesagt, meine Kontaktleute in Paris arbeiten daran.
Außerdem versuchen sie, etwas über die Vergangenheit des Kurden in
Erfahrung zu bringen. Mein Gefühl sagt mir, der Kerl könnte wichtig
sein. Ich würde gern wissen, ob irgendeine Verbindung zu den Armeniern
in Paris besteht. Auch dieser Frage wollen meine Kontaktleute
nachgehen.«
»Sieh dir das mal an.« Janak reichte Samuel einen
Zeitungsausschnitt.
Der Reporter las die Meldung aufmerksam. »Nicht zu fassen. Das
ist Sensationsjournalismus der übelsten Sorte. Was hier steht, kommt
einer Vorverurteilung deiner Mandanten gleich. Woher stammen diese
Informationen?«
»Eigentlich können sie nur von der Staatsanwaltschaft kommen.
Und das ist noch keineswegs das Schlimmste an der Sache. Jeder, der
diesen Artikel liest, weiß jetzt, dass Miguels Fingerabdrücke nicht nur
in einem anderen Fall auf der Tatwaffe waren, sondern auch auf den
Cola-Flaschen in Hagopians Taschen. Selbst wenn Miguel gar nicht vor
Gericht erscheint, wird dieser Umstand auf seine angeklagten Verwandten
abfärben und sie in ein schlechtes Licht rücken. Ganz schön raffiniert.«
»Außerdem werden die Angeklagten dafür an den Pranger
gestellt, dass sie illegal ins Land gekommen sind und amerikanischen
Arbeitern die Jobs wegnehmen. Die Botschaft zwischen den Zeilen lautet,
dass dieses Verbrechen nie begangen worden wäre, wenn Amerikaner für
Hagopian gearbeitet hätten.«
Samuel gab Janak den Zeitungsausschnitt zurück. »Was willst du
dagegen unternehmen?«
»Wir sind auf deine Hilfe angewiesen, Samuel.«
Eine Stunde lang steckten die drei Männer die Köpfe zusammen,
um eine Strategie zu entwickeln. Doch dann war Samuel zu erschöpft, um
sich noch weiter Gedanken darüber zu machen, wie sich ihre Ideen in die
Tat umsetzen ließen. Er verließ die Kanzlei, ging zur
Cable-Car-Haltestelle in der Powell Street und fuhr ins Camelot. Dort
erzählte er Blanche von seiner Begegnung mit Lucine und bat sie, Janak
gegenüber Stillschweigen zu bewahren. Schließlich kehrte er in seine
Wohnung zurück und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Nachdem Samuel und Asquith gegangen waren, blieb Janak allein
in der Bibliothek zurück und strich mit seinen Fingern über den Zettel
mit Lucines Adresse. Er führte die andere Hand an die Narbe an seiner
Wange, die sie in ihrer kurzen gemeinsamen Zeit so oft geküsst hatte.
Dies lag nun schon zwei Jahre zurück, aber er war froh, dass er die
Hoffnung nicht aufgegeben hatte. Am liebsten hätte er ihr auf der
Stelle einen Brief geschrieben, aber er wusste, dass das nicht genügen
würde; er musste es ihr persönlich sagen.
Am nächsten Tag stand Samuel schon bei
Tagesanbruch auf. Er schlüpfte in eine frischgewaschene khakifarbene
Hose und ein neues blaues Hemd. Dann putzte er seine braunen Slipper,
damit die Flecken und Kratzer, die sie bei seinen Fußmärschen durch
Paris abbekommen hatten, nicht mehr zu sehen waren. Als er in den
Spiegel schaute, musste er grinsen. Für einen Mann, der gerade von
einer Reise um die
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