Gift
Nachtmensch kam er morgens
normalerweise nur schwer aus den Federn, doch als er die Sonne durch
das schmutzige Fenster seiner Wohnung scheinen sah und an die vielen
Dinge dachte, die es zu erledigen galt, sprang er mit ungewohntem Elan
aus dem Bett und machte sich mit deutlich mehr Sorgfalt als sonst
ausgehfertig. Um einen guten Eindruck zu machen, hatte er am Vorabend
sogar seine Hose gebügelt und die Schuhe geputzt. Es stand schließlich
ein sonntäglicher Kirchgang auf dem Programm.
Beschwingt verließ der Reporter die Wohnung, um sich auf den
Weg zu dem kleinen Café um die Ecke zu machen. Sein Frühstück bestand
aus zwei Tassen schwarzem Kaffee und einem Donut, den er an der Theke
hinunterschlang. Der heiße Kaffee weckte in ihm Gelüste auf eine
Zigarette. Inzwischen hatte er dem Verlangen, zu rauchen, schon ein
Jahr lang mehr oder weniger widerstanden, und trotzdem überkam ihn
jedes Mal, wenn er eine Tasse Kaffee oder ein Glas Scotch trank, der
starke Wunsch, eine Zigarette zu rauchen. Das gehörte für ihn immer
noch zusammen. Mit einem leisen Seufzer, begleitet von ein paar stummen
Verwünschungen Mr. Songs, machte er sich auf den Weg zu Vanessa.
Janaks junge Sekretärin erwartete ihn in einem geblümten
Baumwollkleid, das zwar nicht direkt aufreizend war, aber ihre Figur
doch sehr gut zur Geltung brachte, wie Samuel bewundernd feststellte.
Er fand, Vanessa hätte sich nicht stärker von Blanche, seiner
heimlichen großen Liebe, unterscheiden können; aber auf ihre Art waren
beide Frauen gleichermaßen attraktiv. Was wusste er außerdem schon von
Frauen, dachte er und lächelte still in sich hinein.
»Dann lassen Sie uns mal fahren, Mr. Hamilton«, sagte Vanessa.
»Wir sollten möglichst etwas früher da sein, damit wir noch vor dem
Elfuhrgottesdienst mit meinem Vater sprechen können.«
Als sie auf dem Weg nach Stockton auf dem Highway 4 zwischen
der schmaler werdenden Bucht von San Francisco und den fruchtbaren
Feldern und Wiesen des Deltas fuhren, klärte Vanessa Samuel über die
Besonderheiten des Gottesdienstes auf, an dem sie in Kürze teilnehmen
würden.
Die Kirche lag direkt am Highway. Auf einem von Hand
beschrifteten Schild am Eingang stand auf Englisch und Spanisch zu
lesen, dass sonntags um elf Uhr der Gottesdienst stattfand. Die Kirche
war ein bescheidener Holzbau mit weißen Zierleisten, deren Farbe
abblätterte. Die Spitze des winzigen Glockenturms zierte ein
windschiefes Kreuz.
Der Parkplatz der Kirche war fast voll. Ein Großteil der Autos
waren Pick-ups, dieAufkleber mit der mexikanischen
Nationalflagge an den Heckfenstern kleben hatten. Einige waren mit
Kisten voll frischem Gemüse beladen. Offensichtlich hatten sie auf dem
Weg zum Markt an der Kirche haltgemacht.
Samuel und Vanessa stiegen die knarrenden Stufen zum Eingang
hinauf und öffneten die verwitterte Tür. Im Innern der Kirche waren
mehrere Reihen hölzerner Klappstühle aufgestellt, die durch einen
Mittelgang getrennt wurden. Unter dem weißen Tuch, das über den
provisorischen Altar gebreitet war, standen grobe Kanthölzer hervor.
Dahinter befand sich eine von oben angestrahlte lebensgroße
Jesusstatue. Die Gläubigen, hauptsächlich mexikanische Landarbeiter und
ihre Familien, sangen, begleitet von zwei Gitarristen, inbrünstig ein
Kirchenlied. Durch mehrere kleine Fenster hoch oben in den Seitenwänden
fielen helle Lichtbänder durch die weihrauchgeschwängerte Luft und den
Kerzenrauch, der vom Altar aufstieg.
Erstaunt über den enormen Lautstärkepegel, sah sich Samuel
aufmerksam um. Er versuchte sich so viele Details wie möglich
einzuprägen, um sie später in seinen Artikeln zu verwenden. Bernardi,
der schon vor ihm eingetroffen war, saß in der letzten Reihe. Samuel
tippte ihm von hinten auf die Schulter. Wegen des Lärms hielt er dem
Detective eine Hand ans Ohr und sagte laut: »Hallo, Lieutenant
Bernardi, schön, dass Sie gekommen sind.«
Bernardi, ausnahmsweise einmal nicht im Anzug, sondern in
einer dunklen Hose und einer braunen Windjacke, drehte sich lächelnd zu
ihm um. Der Kragen seines Hemds war offen, und zu Samuels Überraschung
wirkte der Detective ungewohnt locker und entspannt.
»Das ist Vanessa Galo«, versuchte Samuel den Lärm zu
übertönen. »Ihr Vater ist hier Diakon.«
»Sehr erfreut, Miss Galo, ich bin Bruno Bernardi«, antwortete
der Detective und reichte ihr seine Hand.
Vanessa bedeutete ihnen lächelnd, ihr zu folgen. Als sie den
Mittelgang hinuntergingen, blieb sie immer wieder
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