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Gift

Gift

Titel: Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gordon
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Gestell, das aussah wie ein Notenständer. Mit
seinem schwarzen Anzug, dem frischgebügelten weißen Hemd und den
goldenen Manschettenknöpfen gab er eine respekteinflößende Erscheinung
ab. Obwohl er noch kein einziges Wort an die Gemeinde gerichtet hatte,
gewann Samuel den Eindruck, dass er ein glänzender Prediger war.
    »¡ Atención , por
favor , hijos de Dios!«, wandte sich der Diakon an die Gläubigen, um ihnen
dann, ebenfalls auf Spanisch, zu erklären, was es mit dem Käfer auf den
Fotografien für eine Bewandtnis hatte. »Falls jemand von Ihnen ein
solches Insekt schon einmal gesehen haben sollte, hat er die moralische
Verpflichtung, dies zu sagen, weil er dadurch dazu beitragen kann, ein
Verbrechen aufzuklären. Was sagen uns die Zehn Gebote unseres Herrn? Du
sollst nicht töten! Nächste Woche, wenn diese Männer, Freunde meiner
Tochter Vanessa, wieder hierherkommen, sollten wir in der Lage sein,
ihnen eine Antwort auf ihre Frage zu geben.«
    Samuel beobachtete einen alten Mann, der sich im hinteren Teil
der Kirche auf einen Stock stützte und den Worten des Diakons
aufmerksam folgte. Er sah sehr distinguiert aus mit seinem schlohweißen
Haar, das zusammen mit seinem Schnurrbart in auffallendem Kontrast zu
seiner wettergegerbten dunklen Haut stand. Auch Bernardi war der alte
Mann wegen seines offenkundigen Interesses an den Ausführungen des
Diakons aufgefallen, und er stupste Samuel unauffällig in die Seite.
    »Bevor ich mit der Predigt beginne«, sagte Vanessas Vater,
»möchte ich, dass Sie alle nach vorn kommen und sich diese Fotos
ansehen. Wenn jemandem von Ihnen der blaue Käfer bekannt vorkommt,
bitte ich Sie, es diesen beiden Herren sofort zu sagen.« Wie
hypnotisiert von den eindringlichen Worten des Diakons strömten die
Gläubigen nach vorn, um einer nach dem anderen die Fotografien an der
Pinnwand zu betrachten. Es vergingen mehrere Minuten, bis sich alle
Kirchgänger die Bilder angesehen hatten, aber niemand meldete sich zu
Wort.
    »Nun denn, meine Brüder und Schwestern in Gott, so lasst uns
diese Aufgabe auf den kommenden Sonntag vertagen. Aber bis dahin rechne
ich fest damit, eine Antwort zu bekommen. Vergesst nicht, Gott möchte
dieses schreckliche Verbrechen aufgeklärt wissen. Doch jetzt lasst uns
mit dem Gottesdienst fortfahren!«, rief der Diakon mit leuchtenden
Augen.
    Auf ein Zeichen von ihm begannen die Musiker, auf ihren
Gitarren zu spielen, und die Gläubigen standen auf und stimmten ein
Kirchenlied an. Dabei stampften sie so fest im Takt auf den Boden, dass
eine Staubwolke aufstieg. Doch schon bald begann die donnernde Stimme
des Diakons den Gesang mit lauten Anrufungen und Lobpreisungen zu
übertönen. Die Gläubigen antworteten mit tiefer Inbrunst und gerieten
zusehends mehr in Verzückung. Zwei Frauen verdrehten ekstatisch die
Augen und begannen, sich an den Haaren zu reißen. Das nahm Vanessa zum
Anlass, um Bernardi und Samuel nach draußen zu winken.
    »Es ist besser, wir gehen jetzt«, sagte sie, sobald sie die
Kirche verlassen hatten. »Wenn mein Vater zu predigen beginnt, geraten
die Leute regelmäßig in Ekstase. Einige fallen in Trance und wälzen
sich auf dem Boden. Das kann manchmal ziemlich lange dauern, und wenn
ein Wunder geschieht, zieht sich der Gottesdienst manchmal bis tief in
die Nacht hinein.«
    »Ein Wunder?«
    »So nennen sie es, wenn jemand durch die Berührung meines
Vaters einen elektrischen Strom durch seinen Körper fließen spürt.«
    »Das würde ich gern sehen!«, sagte Samuel.
    »Aber ich nicht«, sagte Vanessa. »Ich muss mir die Predigten
meines Vaters schon zwanzig Jahre lang anhören.«
    »Das kann ich Ihnen nicht verdenken«, sagte Bernardi. »Ich
finde Ihren Vater sehr interessant.«
    »Wollen Sie denn wieder nach drinnen gehen, Detective?«
    »Ja, aber vorher möchte ich mich noch verabschieden.«
    Samuel war nicht entgangen, dass Bernardi kaum den Blick von
Vanessa losreißen konnte. Selbst während der Messe hatte er immer
wieder verstohlen in ihre Richtung geblickt. Aber das sollte nicht
Samuels Sache sein.
    »Könnten Sie mich nächste Woche wieder mitnehmen?«, fragte
Samuel.
    »Aber selbstverständlich«, antwortete Vanessa.
    »Ich würde auch gern mitkommen«, sagte Bernardi rasch.
    »Fahren Sie wieder selbst, Detective, oder soll ich Sie
nächstes Mal auch mitnehmen?«, fragte sie so betont beiläufig, dass
Samuel unwillkürlich aufhorchte.
    »Lieber würde ich mit Ihnen mitfahren …« Bernardi
versank plötzlich in die

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