Gifthauch
auf Rebecca Harrington. Sie eilte zu ihm und drehte ihn herum. Sanft mahnte sie: »Geh zum Auto zurück. Ich muss die Ferndaler Polizei anrufen. Bitte, Michael.«
»Sie ist … tot.«
»Ja. Geh schon, Michael. Bitte. Warte auf mich. Ich bin gleich bei dir.«
Er schien zu schweben, als er davonging. Sie schlug beide Hände vor die Stirn. Dann nahm sie ihr Handy heraus und verständigte das Ferndaler Polizeirevier. Danach rief sie in der Außenstelle an und bat darum, einen Spurensicherungsspezialisten zu entsenden, der die Ortspolizei unterstützen sollte. Dann hastete sie zum Wagen zurück, um mit Michael zu reden.
Er lehnte an seinem Auto. Sie umarmte ihn und war überrascht, dass er die Umarmung erwiderte.
Er fragte: »Wer tut so etwas?«
»Ein sehr schlechter Mensch, Michael. Wahrscheinlich die Schlange.«
»Hat er … hat er sie gefoltert? Sie ist erstickt, oder?«
Jill bezweifelte, dass es im ganzen Land einen ahnungslosen Sechzehnjährigen gab, wo sie alle durch Film, Fernsehen und das Internet derart mit der verbrecherischen Welt konfrontiert waren. Trotzdem war es traumatisch, ein Mordopfer zu sehen – und nicht nur beim ersten, sondern hoffentlich jedes Mal. An so etwas wollte man sich einfach nicht gewöhnen.
Mit bewusst ruhiger Stimme sagte sie: »Die Polizei wird dich nun vernehmen. Man wird uns beide in die Mangel nehmen, weshalb du dort hineingegangen bist und wieso ich es zugelassen habe.« Sie schwieg kurz. »Mir werden sie eine Menge … ach Teufel, Michael, sie werden mir die Hölle heißmachen, weil ich dich überhaupt dabeihabe. Dadurch bin ich in ihren Augen ein Amateur. Sie werden uns trennen oder es zumindest versuchen. Dagegen kann ich wahrscheinlich angehen, weil du minderjährig bist, aber egal, wie es kommt, du musst die Wahrheit sagen. Hast du verstanden? Du musst genau sagen, was du getan hast und warum. Bleib bei der Wahrheit.«
»Werde ich … werde ich verhaftet?«
Jill lächelte. »Nein, Michael. Aber es könnte unangenehm werden. Doch du bist klug und hast einen klaren Kopf. Versuch nicht, frech oder raffiniert zu sein oder besserwisserisch. Das ist der falsche Zeitpunkt. Antworte nur auf das, was sie fragen. Hast du verstanden?«
Er nickte, ein kurzes Zucken mit dem Kopf.
»Wie geht es dir?«, fragte sie. »Das … das da oben war ziemlich schlimm.«
Er schluckte. »War das wirklich die Schlange?«
»Wahrscheinlich.«
»Was will er?«
Sie seufzte. »Er stellt Lösegeldforderungen. Vielleicht geht es ihm nur um Geld.«
»Aber sie …« Er schüttelte den Kopf.
Jill überlegte kurz. »Michael, wenn ich dir mehr erzähle, dann musst du es den Ferndaler Polizisten sagen, falls sie dich danach fragen. Wenn ich dir also nichts verrate, dann kannst du einfach sagen, dass du nichts weißt. Sie fragen dich vielleicht auf ein Dutzend verschiedene Arten danach, wieso sie wohl ermordet wurde, und du kannst dann immer ganz ehrlich antworten: ›Ich weiß es nicht. Ich glaube, es hat irgendwie mit der Schlange zu tun.‹ Das ist das Beste für dich. Und für mich. Und für den Fall. Verstehst du? Ich kann für mich entscheiden, was ich ihnen sage. Aber du musst ihnen die Wahrheit sagen. Deshalb verrate ich dir nichts weiter.«
Er öffnete den Mund zu einem Einwand, aber sie hob die Hand. »Spar dir deine Überredungskünste, Michael. Wenn wir die Vernehmung hinter uns haben, sage ich dir mehr. Okay?«
Er starrte sie an.
Sie hielt ihm die Hand hin. »Abgemacht?«
Seine Miene ließ sich schwer deuten. Ein kompliziertes Gefühlsgemisch spiegelte sich in seinem Gesicht. Dann schüttelte er ihr die Hand. »Abgemacht«, sagte er.
29
13.03 Uhr
Derek kam es vor, als hätte er genügend Zeit verschwendet. Trotz seiner Beklommenheit musste er in William Harringtons Haus. Er stieg aus Jills Auto und ging die Auffahrt hoch. Als sein Satellitentelefon summte, zuckte er zusammen. Erleichtert, dass er eine Entschuldigung hatte, sein Eindringen hinauszuzögern, nahm er das Gespräch an. Es war Jill Church.
»Wo sind Sie?«, fragte sie.
»Haben Sie Rebecca Harrington gefunden?«
»Ja, Stillwater, das habe ich. Und übrigens, Matt Gray niederzuschlagen, war so ziemlich das Dümmste, was sie tun konnten.«
»Ach, ich weiß nicht. Ich habe schon viele andere Dummheiten begangen. Wieso rufen Sie an?«
»Weil ich eine Frage an Sie habe, auf die ich eine Antwort will.«
William Harringtons Zufahrt beschatteten alte Bäume – Eichen, Birken, Ahorne und Pappeln –, deren
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