Gilbert, Elizabeth
uns bei der Geburt von vier unsichtbaren Brüdern begleitet
werde, die mit uns auf die Welt kämen und uns unser Leben lang beschützten.
Solange sich das Kind im Mutterleib befinde, seien die vier Geschwister dort
bei ihm - repräsentiert von der Plazenta, dem Fruchtwasser, der Nabelschnur und
der gelblichen wachsartigen Substanz, die die Haut des ungeborenen Kindes
schützt. Wenn das Baby zur Welt komme, nehmen die Eltern diese »nebensächlichen
Geburtsmaterialien«, legen sie in eine Kokosnussschale und vergraben diese
neben der Eingangstür des Hauses.
Den Balinesen zufolge ist diese vergrabene Kokosnuss die
heilige Ruhestätte der vier Brüder, und die Begräbnisstelle wird gepflegt wie
ein Schrein. Immer wenn die Mutter den Säugling badet, schüttet sie ein wenig
Badewasser auf die Stelle neben der Tür, um auch die vier Geisterbrüder zu baden,
und jeden Tag tröpfelt sie ein wenig Muttermilch auf die Stelle, um die vier
Geisterbrüder zu »füttern«.
Sobald das Kind Bewusstsein entwickelt, lehrt man es, dass
es diese vier Brüder hat, die es auf all seinen Wegen begleiten und es immer
beschützen werden. In den Brüdern verkörpern sich auch die vier Tugenden, die
ein Mensch zu einem glücklichen und sicheren Leben benötigt: Intelligenz,
Freundschaft, Stärke und Poesie. In allen
kritischen Situationen kann man die Brüder um Beistand anrufen. Und wenn man
stirbt, holen die vier Geisterbrüder die Seele ab und bringen sie in den
Himmel.
Noch nie, hat mir Ketut heute erzählt, habe er die
Vier-Brüder-Meditation einem Westler beigebracht, aber er glaube, ich sei so
weit. Als Erstes lehrte er mich die Namen meiner unsichtbaren Geschwister: Ango
Patih, Maragio Patih, Banus Patih und Banus
Patih Ragio. Diese Namen müsse ich memorieren und dann meine Brüder ein
Leben lang, wann immer ich sie brauche, um Hilfe bitten. Ich müsse nicht
förmlich mit ihnen kommunizieren, so wie wir etwa gegenüber Gott die Form
wahren. Ich dürfe sie mit zärtlicher Vertrautheit ansprechen, weil »sie nur
deine Verwandte sind«. Morgens nach dem Aufstehen solle ich ihre Namen aufsagen,
dann kämen sie zu mir. Auch jedes Mal vor dem Essen müsse ich sie rufen, damit
auch sie die Mahlzeit genießen könnten. Wann immer ich Angst hätte, solle ich
meine Brüder ansprechen, und sie würden mich verteidigen. Und schließlich
solle ich sie vor dem Schlafengehen anrufen und sagen: »Ich schlafe jetzt,
bleibt daher wach und beschützt mich«, denn meine Brüder würden die ganze Nacht
über mich wachen und Dämonen und Albträume abwehren.
»Das ist gut«, sagte ich ihm, »denn Albträume plagen mich
häufig.«
»Was für Albträume?«
Ich erklärte dem Medizinmann, dass ich seit meiner Kindheit
immer wieder denselben schrecklichen Albtraum hätte, in dem ein Mann mit einem
Messer neben meinem Bett stehe. Dieser Traum ist so lebhaft, der Mann so real,
dass ich manchmal vor Angst laut aufschreie. Dann sitze ich mit weit
aufgerissenen Augen im Bett, knipse das Licht an und sehe den Mann mit dem
Messer immer noch, wie er dasteht und mich anstarrt. Es dauert dann eine
Ewigkeit, bis das Bild wieder verblasst und schließlich mit der Tapete
verschwimmt. Das Herz pocht mir dabei bis zum Hals (und auch für alle, die je
mein Bett teilten, war dieses Erlebnis kein Vergnügen). Diesen Albtraum habe
ich, solange ich denken kann, alle paar Wochen.
Ketut meinte, ich hätte diese Vision jahrelang miss verstanden.
Der Mann mit dem Messer in meinem Schlafzimmer sei gar kein Feind, sondern
einer meiner Brüder. Er sei derjenige von ihnen, der die Stärke repräsentiere.
Und er wolle mich nicht angreifen, sondern meinen Schlaf bewachen. Wahrscheinlich
würde ich jedes Mal wegen des Lärms aufschrecken, der entstehe, weil mein
Geisterbruder irgendeinen bösartigen Dämon abwehre. Und was mein Bruder bei
sich habe, sei kein Messer, sondern ein kiris - ein
kleiner Dolch. Und nun solle ich mich nicht mehr ängstigen, sondern könne mich
im Wissen, beschützt zu sein, schlafen legen.
»Du hast Glück«, sagte Ketut. »Glück, du kannst ihn sehen.
Manchmal ich sehe meine Brüder in Meditation, aber für normale Mensch ist
selten. Du große Macht, ich glaube. Du vielleicht Medizinfrau eines Tages, ich hoffe.«
»Okay«, sagte ich lachend, »aber nur, wenn ich dann auch
meine eigene Fernsehserie kriege.«
Er stimmte in mein Lachen ein, auch wenn er meinen Witz
natürlich nicht verstand - lachte einfach, weil er es liebt, wenn jemand Witze
macht. Dann
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