Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
Mutter krampfte sich Elenas Herz zusammen, sie berührte ihre Wange, spürte einem Hauch der längst vergangenen Küsse ihrer Mutter nach. »Mama.« Ein gebrochenes Flüstern, die flehentliche Bitte eines Kindes.
Später war alles voller Blut gewesen. Elena war ausgerutscht, schwer gestürzt. Hatte Belles letzten Atemzügen gelauscht, in die vor Entsetzen geweiteten Augen Ariels geblickt. Selbst in diesem Moment hatte ihre Schwester noch versucht, sie zu beschützen, mit gurgelnder Stimme, das Blut war ihr längst in die Kehle gestiegen, hatte sie sie angefleht wegzulaufen. Aber Slater Patalis hatte gar nicht vorgehabt, Elena zu töten. Mit ihr hatte er ganz andere Pläne gehabt.
»Süße, kleine Jägerin.«
Mit einem Ruck stellte sie das Wasser ab, trat aus der Dusche und trocknete sich konzentriert ab. Sie entfaltete die Flügel, wie sie es bei Raphael gesehen hatte, und ein solch großer Schmerz fuhr ihr durch die Wirbelsäule, dass es ihr den Atem verschlug. Im Grunde hieß Elena die Schmerzen willkommen, denn sie unterbrachen die Endlosschleife ihrer Erinnerungen; sie schlüpfte in ihre Trainingsklamotten: weite schwarze Sporthosen mit einem weißen Streifen an der Seite und ein eng anliegendes, schwarzes, ärmelloses Oberteil mit eingearbeitetem BH.
Wie die übrige Kleidung in ihrem Schrank war auch dieses Top eindeutig für jemanden mit Flügeln entworfen worden; das Vorderteil wurde im Nacken von einem festen Band gehalten, die Rückenpartie bestand aus drei Stoffbahnen, zwischen denen Platz für Flügel blieb – in der Taille wurde es um einen breiten Gürtel geschlungen und mit einer Schnalle festgezogen. Zusätzlichen Halt gab eine Verstärkung im Bereich des Brustkorbs. So verpackt würde ihre Kleidung sie beim Training nicht behindern, und um die Haare aus dem Gesicht zu halten, flocht sie ihre nasse Mähne zu einem französischen Zopf.
Es gehörte nicht zu ihren Gewohnheiten, Unordnung zu hinterlassen, deshalb räumte sie auf, bevor sie das Zimmer verließ – den Brief ließ sie in einer Schublade verschwinden. Hinter dem Schlafzimmer mit seinen Glaswänden lag das riesige Wohnzimmer. Dann kam ein Flur und direkt gegenüber ein Büro und eine kleine, aber gut ausgestattete Bibliothek; durch die gläsernen Außenwände wurden die Berge beinahe ein Teil der Räume. Bücher füllten die tiefen Regale, einige waren alt, andere neu, aber Elena entdeckte auch eine moderne Computeranlage. Sie befand sich hier ganz oben auf der Festung, direkt über dem Herz des Turms. Weiter unten lagen noch weitere Quartiere – Zimmer für die Sieben, andere Engel und Vampire. Doch der oberste Flügel war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, er gehörte ganz allein Raphael.
Der Durchgang, der zu den in das Massiv geschlagenen Treppenstufen führte, war eine wohltuende Symphonie aus symmetrischen Linien, die nur durch einen ungewöhnlichen Gegenstand gebrochen wurden. Ein Krummsäbel hing an der linken Wand, in dessen glänzende Silberklinge Runen eingelassen waren. Elena konnte sich diese Waffe gut in Dmitris Händen vorstellen, vielleicht hatte sie ihm einmal gehört. Schließlich war Dmitri schon sehr alt, einer der ältesten Vampire, die Elena kennengelernt hatte.
Ein paar Schritte weiter bedeckten handgewebte Teppiche große Teile der rechten Wand. Am Vortag hatte Elena beinahe eine halbe Stunde damit zugebracht, die Darstellungen darauf zu betrachten. Selbst jetzt, als sie eigentlich nichts lieber wollte, als die Übelkeit in ihrem Magen durch körperliche Anstrengungen zu vertreiben, zögerte sie und blieb stehen. In diesen kunstvoll gestalteten Teppich war eine Geschichte eingewoben, die sie unbedingt begreifen wollte.
Auf dem Wandbehang war ein Engel abgebildet. Golden zeichnete sich seine Silhouette gegen die Sonne ab, sein Gesicht blieb dem Betrachter verborgen. Er eilte zu einem brennenden Dorf inmitten eines Waldes. Hinter ihm war ein zweiter, weiblicher Engel zu sehen, dessen Haare sich in schwarzen Wellen über den Rücken ergossen. Die Flügel waren von so reinem Weiß, wie Elena es noch nie zuvor gesehen hatte. Haarsträhnen verhüllten das Gesicht, sodass auch dessen Züge nicht zu erkennen waren. Die schmerzverzerrten Gesichter der Dorfbewohner hingegen … waren bis ins feinste Detail ausgestaltet. Selbst das Grauen in den Augen einer Frau war deutlich zu erkennen, die in einem Meer von Flammen eingeschlossen war. Ihr Rock hatte bereits Feuer gefangen, und ihre Arme waren bedeckt mit
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