Gilde der Jäger: Engelsblut (German Edition)
etwas war anders, als sie es bei den ermordeten Mädchen wahrgenommen hatte, anders als bei den Männern, die unter der Brücke gehangen hatten.
DochihrbliebkeineZeit,dieDuftnotenzuanalysieren,denneinenSekundenbruchteilspäterhobsicheinFlügelunterihrerBerührung.MiteinerBewegung,diesoschnellwar,dasssieihrnichtmitdenAugenfolgenkonnte,warRaphaelaufdenBeinenundstandnebendemBett.Einweißes,heißesGlühen,solebendig,alswollteesseineUmrisseauslöschen,verwandelteihnineineloderndeFackel.BestürzthieltElenadieHandvordieAugenundzogdenKopfein.SiewollteausdemBettkriechenundnachdenWaffengreifen,diedarunterverstecktwaren,umihnmitallem,wasinihrerMachtstand,zuunterstützen.
Doch schon im nächsten Augenblick war die gleißende Hitze seiner Macht verschwunden.
Sie sah auf, es juckte sie in den Fingern, nach der Waffe zu greifen. Das Ding in der Mitte des Zimmers war verschwunden, keine Spur mehr von schwarzen Orchideen in der Luft. Doch sie blieb kampfbereit, bis Raphael sagte: »Meine Mutter ist nicht mehr hier, Elena .« Seine Stimme klang seltsam entfernt, was ihr überhaupt nicht gefiel.
Sie schob die Decken zur Seite und glitt aus dem Bett.
Raphael zog sich bereits eine schwarze Hose über die wohlgeformten Beine. »Ich werde vor Tagesanbruch zurück sein. Heute Nacht wird sie nicht wiederkommen .«
»Warte .«
ErhieltnichteinmalanderBalkontürinne,sondernstießsieweitauf.Siekonnteihmgeradenochsoweitfolgen,dasssieihnsoschnellundweitindensternklarenNachthimmelfliegensehenkonnte,umihninnerhalbwenigerSekundenausdenAugenverlorenzuhaben.Einheißer,entschlossenerStichWutdurchfuhrsie.Damitwürdeernichtdurchkommen.NichtnachderIntimitätihrergemeinsamenAugenblicke,nichtnurindieserNacht,sonderninderganzenZeit,seitsieausdemKomaerwachtwar.NichtnachderVerbindung,diesieeingegangenwaren.
Sie ging zurück ins Schlafzimmer, zog sich ihre Hose an und legte eines der stützenden Tanktops mit Bändern an, die so geschnitten waren, dass sie Aussparungen für die Flügel ließen. Dann streifte sie die langen gefütterten Ärmel über, die sich eng an ihre Oberarme schmiegten und die Hände frei ließen. Nur wenige Minuten nach Raphaels Abflug stand sie wieder auf dem Balkon. Nur zu deutlich nahm sie die Schwaden von dunkler Schokolade und Pelz wahr, die sich unter der Schlafzimmertür hindurchschlängelten, während der Besitzer dieser Düfte immer näher kam. Dmitri war zu einer späten Besprechung mit Raphael herübergekommen und hatte beschlossen, die Nacht in einem der für die Sieben reservierten Zimmer zu verbringen.
Jetzt war klar, dass Raphael ihm aufgetragen hatte, auf Elena aufzupassen.
Und auch das, dachte sie mit zusammengebissenen Zähnen, musste ein Ende haben.
Als sie nach unten sah, erkannte sie, dass sie keine Chance hatte, aus ihrer gegenwärtigen Position abzufliegen, schon gar nicht in ihrem unkonzentrierten Zustand. Also sprang sie stattdessen vom Balkon und benutzte die Flügel nur, um ihren Fall zu bremsen. Dann rannte sie zwischen den Bäumen hindurch zum Rand der Klippen und stürzte sich in die Luft über dem Hudson, schlug fest und schnell mit den Flügeln – die jetzt stärker waren und mehr Spannkraft hatten – , um sich von dem kabbeligen Wasser hinauf in die klare Schönheit des Nachthimmels emporzuschwingen. Die Sterne funkelten wie Eis auf schwarzem Samt.
Sie spürte den Wind kühl auf ihrer Haut, fließend und sanft auf ihren Flügeln. Unter ihr lag Manhattan wie das Meer um Mitternacht, über das glitzernde Edelsteine verstreut waren. New York. Es konnte ein harter Ort sein, eine harte Stadt. Genauso hart wie der Erzengel, der über sie herrschte.
Doch es war ihr Zuhause.
Und der Erzengel gehörte ihr.
Raphael.
Sie gab sich Mühe, den Gedanken nur an ihn zu senden, nachdem sie in den letzten Tagen an der Feinabstimmung der mentalen Fähigkeiten gearbeitet hatte, über die sie anscheinend bereits verfügte. Laut Raphael würden weitere Fähigkeiten nach und nach dazukommen, und darüber war sie froh – im Augenblick hatte sie mehr als genug zu tun, auch ohne mit irgendwelchen unerwarteten Superkräften zurechtkommen zu müssen.
Sie bekam keine Antwort, aber ein Ziehen in ihrer Seele ließ sie wenden und den Kopf grob in Richtung Camden, New Jersey, drehen. Raphael war mit ihr auf einer Ebene verbunden, die inniger war als die des Herzens. Die Jägerin, die sie einst gewesen war, hätte sich über solche Gedanken lustig gemacht, doch damals hatte sie noch nicht den goldenen Genuss von Ambrosia
Weitere Kostenlose Bücher