Gilde der Jäger: Engelsblut (German Edition)
regierte.
Wenige Augenblicke später tauchte der große Landeplatz auf dem Dach des Turms vor ihr auf, er schien über den Wolken zu schweben. Es war ein überwältigender Anblick, doch ihr fehlte die Zeit, ihn zu würdigen – denn sie hatte die Geschwindigkeit ihres Sinkfluges falsch eingeschätzt, und es war zu spät, sie zu drosseln. »Nur die Harten kommen in den Garten « , murmelte sie, bleckte die Zähne zu dem, was ihr Jagdgenosse und Manchmal-Freund Ransom ihr »Kamikaze-Lächeln « genannt hatte, und machte sich für die Landung bereit.
Sie achtete darauf, ihre Flügel in kurzen, scharfen Schlägen zu öffnen, als ihre Füße den Boden berührten, denn schmerzhafte Erfahrungen hatten sie gelehrt, dass sie – Kamikaze hin oder her – sich nicht gerne die Knie zertrümmerte. Selbst mit ihren vermehrten Selbstheilungskräften tat es furchtbar weh. Das Ergebnis war, dass sie nach der Landung über das Dach raste.
Stell dir einen Fallschirm vor, Ellie.
In der Erinnerung an Illiums Anweisungen wölbte sie die Handschwingen nach innen, sodass sie nicht mehr auf der Luft lagen, sondern sie aufhielten. Sie wurde langsamer. Noch langsamer … bis sie es endlich schaffte, ihre Flügel hinter dem Rücken zusammenzulegen.
»Okay « , sagte sie zu der durchsichtigen Wand einen Zentimeter vor ihrer Nase, »das ist gut gegangen .« Beinahe wäre sie gegen das Glasgehäuse des Aufzugs geknallt.
Sie riss die Tür auf und drückte auf den Knopf, um den Aufzug zu rufen, das Adrenalin rauschte nur so durch ihre Adern. Natürlich hätte sie auch versuchen können, auf dem Balkon direkt vor Raphaels Büro und seiner Suite zu landen, aber wegen des beengten Landebereichs hätte sie sich dabei wahrscheinlich mehr als nur ein paar Knochen gebrochen. Und in den letzten anderthalb Jahren hatte sie wirklich genügend Knochenbrüche gehabt. Vielen Dank.
In einem Sekundenbruchteil sauste der Aufzug zu Raphaels Privatetage. Als sie ankam, trat sie auf den sich zu beiden Seiten erstreckenden, strahlend weißen Korridor hinaus. Er war mit goldenen Akzenten verziert – winzige, fast mikroskopisch kleine Sprenkel an den Wänden, goldene Fäden im tiefen, weißen Flor des Teppichs. Es war eine ausgesprochen kühle Eleganz – ihre Federn glätteten sich unter dem Hauch von Eis, der in der Luft lag. Die Kälte drang Elena bis in die Knochen und neutralisierte bereits das Adrenalin.
Sie schüttelte das frostige Gefühl ab und betrat das große Arbeitszimmer, das in eine Suite überging. Wolken schmiegten sich an das Glas der rückwärtigen Wand und schirmten den Rest der Welt ab – sie gaben ihr das Gefühl, in ein Nichts eingehüllt zu sein. Eine verwirrende Empfindung. »Raphael ?«
Stille.
Absolut.
Endlos.
Kein Duft von Wind und Regen in Reichweite ihrer Sinne. Kein Flüstern von Flügeln. Keine Spur von Macht in der Luft. Nichts, aber auch gar nichts, das ihr sagte, dass Raphael in der Nähe war. Und doch wusste sie, dass er da war.
Sie holte tief Luft und streckte ihren Geist aus. Raphael? Sie konnte ihre Gedanken nicht so gut steuern wie er, konnte nicht spüren, ob sie ihn erreicht hatte, solange er nicht antwortete.
Auch dieses Mal war Stille die einzige Antwort.
Mit einem unguten Gefühl überquerte sie den kostbaren Teppich des Arbeitszimmers und betrat die angrenzende Suite – Räume, auf die sie bei ihrem ersten Besuch nur einen kurzen Blick hatte werfen können. Die Suite nahm fast die Hälfte des Stockwerkes ein – in der anderen Hälfte waren Zimmer für die Sieben eingerichtet – und diente Raphael als zweites Zuhause. Sie rief laut seinen Namen, als sie in das große Wohnzimmer kam, doch er hallte nur hohl in der Leere des Raums wider, der die maskuline Signatur ihres Erzengels trug.
Es gab keine übertriebenen Verzierungen, nichts Verschnörkeltes. Die Möbel waren in einem eleganten Schwarz gehalten, mit kräftigen, klaren Linien, die zu Raphael passten. Dennoch war es kein seelenloser Ort. Im Kontrast zu der recht modernen Möblierung war das Wohnzimmer mit einem Wandteppich dekoriert, auf dem in prächtigen Farben ein antiker Hof dargestellt war. Und als sie die Tür zu dem lang gestreckten Schlafzimmer öffnete, sah sie aus den Augenwinkeln ein Gemälde an der linken Wand, das …
Sie sah es sich genau an.
Das Gemälde war eine lebensgroße Darstellung von ihr, die Messer in den Händen, die Flügel ausgebreitet und die Beine in kampfbereiter Stellung. Ein leichter Wind wehte ihr spielerisch das
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