Gilde der Jäger: Engelsblut (German Edition)
sie bis zu diesem Augenblick nicht bemerkt hatte. »Ich werde die Suche nach der zweiten Leiche in die Wege leiten « , sagte er, als sie den Fuß auf die erste Stufe setzte, »und den Leichenbeschauer darüber informieren, dass Sie die sterblichen Überreste sehen möchten .«
Elena umklammerte das Treppengeländer. Das Leben zweier unschuldiger Familien stand kurz davor, in Scherben zu gehen, die nie wieder ein einheitliches Ganzes bilden würden. »Was ist mit meinen Schwestern ?« , fragte sie, während sie gegen ihr Inneres ankämpfte, das sie zurück in die grauenvolle Vergangenheit einer anderen Familie zerren wollte, einer Familie, die in einer kleinen Vorstadtküche vor fast zwei Jahrzehnten zerbrochen war. »Und den anderen Mädchen ?«
»Wurden nach Hause geschickt. Ihr Vater hat einen Wagen kommen lassen, um Ihre Schwestern abzuholen – sie sind vor fünfzehn Minuten gefahren .« Noch immer kein Sarkasmus, kein Versuch, sie mit seinem Geruch zu verunsichern.
Dmitris Zurückhaltung beunruhigte sie mehr als alles, was er hätte sagen können.
Sie überließ ihm die Aufgabe, die zweite Leiche zu finden, und ging hinauf in eine Art Atelier. Es war umgeben von riesigen Fenstern, die unendlich viel Sonnenlicht einfangen sollten. Doch heute herrschte dort keine wohlige Wärme, kein schimmerndes Gold. Die Welt da draußen war ein mürrisches Grau, dessen Gewicht die Atmosphäre erstickte.
Sie schüttelte den Gedanken ab, dass nichts in solch bleierner Luft fliegen könne, und trat auf den angebauten Balkon hinaus. Dmitri hatte nicht übertrieben, als er ihn als klein bezeichnet hatte. Es erforderte ihre ganze Balance, auf das winzige Geländer zu steigen, und selbst von dort wirkte der Boden viel zu nah.
Sie tat einen tiefen Atemzug, breitete die Flügel aus … und sprang.
Der Boden stürzte mit rasender Geschwindigkeit auf sie zu, sie schlug schnell und fest mit den Flügeln, belastete die Muskeln bis über die Schmerzgrenze hinaus. Fast hätte sie mit den Fingern durch das Gras streifen können, doch die Luft trug sie, und sie schwang sich empor, bis sie hoch genug war, um auf den Luftströmen zu gleiten. Ihre Schultern schmerzten von der ungewohnten Dauer und Art des Fliegens an diesem Tag, doch nicht so sehr, dass sie befürchtet hätte, vom Himmel zu fallen.
Nachdem sie in einem starken Luftstrom verschnauft hatte, flog sie noch ein Stück höher – sodass niemand beim Hinaufsehen sofort die ungewöhnlichen Farben ihrer Flügel bemerken würde. Der Wind peitschte ihr die Haare aus dem Gesicht und drohte, ihre Haut mit einer Eisschicht zu überziehen. Die Kälte nahm ihre Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch, dass sie den dahingleitenden schwarzen Schatten hoch über sich fast nicht bemerkt hätte.
Jason.
Er wachte über sie.
An einem normalen Tag hätte sie das geärgert, aber heute war sie zu besorgt um Raphael, um sich darüber aufzuregen. Stattdessen nahm sie sich vor, Jason zu bitten, ihr ein paar Tricks zu zeigen, wie man sich am Himmel unsichtbar machen konnte – sie liebte ihre Flügel mit grenzenloser Leidenschaft, aber im Gegensatz zu Illiums unverwechselbarem, silberumrahmtem Blau verschmolzen sie bei Tageslicht nicht mit dem Himmel. Ihre Flügel waren ebenso wie die Jasons für die dichte Schwärze der Nacht und vor allem für das Zwielicht am Rande des Morgengrauens gemacht.
Sie fand einen Aufwind und segelte darauf wie ein junger Vogel, um ihren Muskeln eine Verschnaufpause zu gönnen. Der Gedanke beschwor Bilder von Sam herauf, dem Engelsjungen, der zwischen die Fronten geraten war, als ein narzisstischer Erwachsener versucht hatte, die Macht an sich zu reißen. Wenn Elena nur daran dachte, wie sie ihn gefunden hatte – sein kleiner Körper zusammengekrümmt, die Flügel gebrochen –, empfand sie ein wildes Durcheinander aus Zorn und Schmerz. Es wurde nur dadurch erträglich, dass sich der Junge inzwischen auf dem Weg der Besserung befand.
Ein Windstoß ließ sie kräftig blinzeln. Als er vorübergezogen war, ragte der Erzengelturm von Manhattan vor ihr auf, ein stolzes, trotziges Gebäude, das die höchsten Wolkenkratzer klein erscheinen ließ. Selbst an einem Tag wie diesem, an dem der Himmel eine bedrohliche, schieferfarbene Decke war, durchbohrte die lichtdurchflutete Säule strahlend die Skyline. Unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte schoss sie wie ein Pfeil darauf zu, denn sie war sicher, dass Raphael sich an den Ort begeben hatte, von dem aus er sein Herrschaftsgebiet
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