Gilde der Jäger: Engelsdunkel (German Edition)
Treffpunkts nicht ganz wohl war, griff sie in eine verborgene Tasche ihrer Tunika und holte eine kleine Karte heraus. »Es ist ihre Handschrift.«
Venom nahm die Karte entgegen und rieb mit dem Daumen über die Schrift. »Ja, du hast recht. Aber ihre Schrift ist nicht so kunstvoll, dass man sie nicht fälschen könnte. Die Sache gefällt mir nicht.«
Mit einem Mal wusste sie, warum Venom zu ihr in den Palast gekommen war, und ihr Herz zog sich zusammen. »Jason hat dir aufgetragen, auf mich aufzupassen.« Offenbar war sie Jason so wichtig, dass er einen anderen der Sieben gebeten hatte, ein Auge auf sie zu haben – und sie merkte, dass sich etwas in ihr veränderte. Niemand hatte mehr auf sie aufgepasst, seit sie die Zufluchtsstätte verlassen hatte – und damit den Schutz derer, die sich um das Wohl des Engelsnachwuchses kümmerten. Sie war nicht stolz genug, um gegen die Gefühle anzukämpfen, die Jasons Fürsorge in ihr hervorriefen.
Venoms Antwort war ein schwaches Lächeln. »Hier steht, dass du bis zu dem Treffen noch eine Viertelstunde Zeit hast.«
»Ich wollte etwas früher da sein.« Und Zeit haben, mich zu sammeln, damit Neha mich durch nichts zu einem fatalen Fehler treiben kann.
»Tu mir den Gefallen«, sagte Venom, »und sei genau pünktlich.«
Sie sah auf und streckte die Hand aus, und bevor er ihre Absicht erahnen konnte, hatte sie ihm die Sonnenbrille abgenommen. In einer geschmeidigen, wunderschönen,überausschnellen Bewegung wich er vor ihr zurück, Mahiya jedoch blieb stehen. »Du hättest nur zu fragen brauchen«, sagte er und strich sich einige in Unordnung geratene Haarsträhnen zurück, als er sich aus seiner kampfbereiten Hockstellung erhob. Lebhaft und hypnotisch hoben sich seine grünen Augen vor seiner warmen, wüstenbraunen Haut ab, die ihren Ursprung in diesem Land hatte.
»Ich wollte in deinen Augen lesen.« Mahiya gab ihm die Sonnenbrille zurück, während sich in ihrem Hinterkopf ein leises, irritierendes Gefühl einstellte. »Aber das war dumm«, sagte sie. Das merkwürdige Gefühl, dass irgendetwas fehlte, war verschwunden, ehe sie ihm nachgehen konnte. »Ich kenne niemanden, der in solchen Augen lesen könnte.«
Venom setzte die Brille wieder auf und zog sich zurück. »Vergiss nicht, genau pünktlich zu kommen.« Dann nahm er Tempo auf und war mit einer blitzartigen Bewegung verschwunden, die nichts Menschliches mehr an sich hatte.
Aber so schnell er auch war, er konnte es niemals vor ihr zur Bergfestung schaffen. Trotzdem flog sie auf das Palastdach, um dort zu warten und ihm die Zeit zu geben, um die er gebeten hatte. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, verstärkte sich, je länger sie über die Situation nachdachte. Aber es war nicht möglich, das Treffen nicht wahrzunehmen, da es höchstwahrscheinlich doch Neha gewesen war, die ihr die Nachricht geschickt hatte. Der Erzengel wusste, dass Mahiya eine unerträgliche Angst vor dieser Festung hatte … und er wusste auch, warum.
Bitte nicht! Bitte!
Es war das einzige Mal gewesen, dass sie gebettelt hatte. Und es war außerdem das einzige Mal, dass sie auf Nehas Gesicht einen Ausdruck des Entsetzens gesehen hatte, so als könne diese selbst nicht glauben, was sie da tat. Doch hatte sie das nicht aufgehalten … und Anoushka hatte die ganze Zeit neben ihr gestanden, wie ein kaltäugiger Schatten ihrer Mutter.
Nur noch zwei Minuten bis zu dem Treffen.
Sie breitete die Flügel aus, flog von dem Dach in den Himmel hinauf und nahm Kurs auf die Tempelruine. In diesem Punkt hatte sich Neha geirrt. Auch wenn bei dem Gedanken an die Bergfestung ihre Haut klamm vor Angstschweiß wurde, verband sie mit diesem Tempel nur glückliche Erinnerungen.
Diese Erinnerungen als Talisman in ihrem Kopf, flog sie über die Bergfestung und deren Wachposten hinweg. Ein Stück südlich der schützenden Mauern lagen die bröckelnden Ruinen eines Tempels, der vor langer Zeit zu Ehren des Erzengels erbaut worden war, der vor Neha hier geherrscht hatte. Für seine Zerstörung war Neha nicht verantwortlich, er war einfach nicht mehr benutzt worden, nachdem der betreffende Erzengel im Kampf gegen ein anderes Kadermitglied getötet worden war.
Während die Mauer der einen Seite vollständig zerstört war und das Dach auf die Pflastersteine gestürzt war, stand die andere Hälfte noch mehr oder weniger aufrecht. Zehn unbeugsame Säulen trugen die Überreste des löchrigen Daches, durch das Sonnenlicht auf den Boden fiel und ein Mosaik aus Licht
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