Gillian Shields - Der Zauber der Steine
schwarzen Umhang wie im Film. Und er hatte strahlend blaue Augen, so blau wie … ich kann es nicht beschreiben. Er war perfekt.«
»Hat er etwas zu dir gesagt?«, fragte Helen.
»Ja, darum geht es ja. Er sagte: ›Erzähl deinen Freundinnen, dass Evelyn Johnson an einem Ort tief unter der Erde gefangen ist und weder Feuer noch Wasser sie retten kann. Sag ihnen, dass sie die Hilfe ihrer Schwestern braucht.‹ Und dann … dann veränderte sich sein Gesicht, als ob es sich in Staub auflösen würde.« Velvet sah uns triumphierend an. »Seht ihr, Evie kommt nicht wieder. Jetzt braucht ihr mich. Ihr müsst mich in eure Schwesternschaft aufnehmen.«
»Glaubst du wirklich, dass wir Evie so schnell aufgeben?«, schleuderte ich ihr wütend entgegen. »Wofür hältst du uns? Wir sind ihre Freundinnen!«
»Über Freundinnen und Freundschaft weiß ich nicht viel«, Velvet zuckte mit den Schultern, »ich bin ein Naturtalent, mir Feinde zu machen. Also was nun, Sarah? Bin ich dabei? Werdet ihr mich in eure Geheimnisse einweihen oder nicht? Freunde oder Feinde?«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Niemand wird jemals Evies Platz einnehmen können, Velvet«, schaltete sich Helen mit ruhiger Stimme ein, »und es ist an dir zu entscheiden, ob du für oder gegen uns sein möchtest. Diese Entscheidung können wir dir nicht abnehmen. Komm Sarah, wir gehen.«
Sie schob mich aus dem Zimmer. Velvet starrte uns wütend hinterher, ihre Augen sprühten Funken. Ich zitterte, und Helen nahm meinen Kopf zwischen ihre Hände. »Sarah, du kannst dich nicht um jeden kümmern oder die ganze Welt retten. Velvet wird ihren eigenen Weg finden. Deine Aufgabe ist es, Evie zu finden. Wie wirst du dich entscheiden?« Ihr Gesicht war bleich, die Augen sorgenvoll. Sie sah aus wie eine Heilige in einem antiken Gemälde. Wer tat Helen in diesem Augenblick mehr leid? Velvet oder Evie? Oder galt ihre Sorge etwa mir?
Ein Ort tief unter der Erde. Sebastian oder sein Schatten, oder eine spirituelle Botschaft an seine Liebe hatte versucht uns zu sagen, wo Evie versteckt gehalten wurde. Sie war tief unter der Erde … aber wo?
Erde steht für Sarah.
»S« wie Sarah.
Der Brief meiner Mutter und die darin enthaltene Warnung fielen mir wieder ein. Halte dich von den Trommeln in den Tiefen der Erde fern. Die Trommeln waren das Bindeglied, die Trommeln, die ich während meiner Vision von Maria gehört hatte. Ich hatte Recht gehabt, als ich Cal sagte, dass Maria der Schlüssel war, um das Geheimnis zu lüften. Sie musste diesen schrecklichen Ort, wo Evie gefangen war, selbst gekannt haben. Halte dich fern , hatte Maria damals gesagt, aber ich hatte keine Wahl. Es war meine Pflicht, dorthin zu gehen. Ich musste Maria suchen, und wenn ich sie gefunden hatte, würde sie mich zu Evie führen, mitten ins Herz der Gefahr.
Sechsundzwanzig
I ch bereitete mich vor wie für eine Wanderung und packte warme Pullover, eine Wanderkarte, eine Taschenlampe und ein Seil, das ich in den Ställen gefunden hatte, in einen alten Rucksack. Alles Dinge, die vielleicht wichtig sein konnten. Die bronzene Krone verstaute ich ganz unten. Sie war zu wertvoll, um sie unbewacht zurückzulassen. Unter meinen Reitklamotten trug ich den Talisman. Eine unwirkliche Situation und eine Ironie des Schicksals: Die Lockerung der strengen Verhaltensregeln durch Miss Scratton bedeutete auch, dass es unserem Jahrgang erlaubt war, das Schulgelände nach dem Abendessen für einen Spaziergang oder einen kurzen Ausritt zu verlassen, wenn wir uns in das Abwesenheitsbuch in der Eingangshalle eintrugen. Deshalb fiel es gar nicht weiter auf, als Helen und ich auf Bonny und Starlight hinunter zum Schultor ritten. Zwei Wyldcliffe-Schülerinnen auf einem Ausritt an einem lauen Frühlingsabend, mehr nicht.
Helen hatte sich ohne Wenn und Aber auf meine Pläne eingelassen. Sie kam einfach mit. Obwohl es ihr eigentlich keinen Spaß machte, war sie eine geborene Reiterin, viel besser, als Evie es je sein würde. Jetzt bloß nicht an Evie denken. Es tat zu weh. Das war unsere letzte Chance, sie zu finden, und ich durfte nichts falsch machen. Um mich abzulenken, beobachtete ich Helen und bewunderte ihre aufrechte Haltung und ihr feines Profil. Sie sah aus, als würde sie nicht zu dieser Welt gehören, wie ein Ritter aus dem Mittelalter, der in die Schlacht zog, dem Untergang geweiht, stolz und traurig.
Wir ritten durch das Dorf, und ich erinnerte mich an meine erste Begegnung mit Cal. Er war am Anfang
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