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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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die Halsbinde lockerte und den Rock aufzuknöpfen begann, unaufgefordert mechanisch wie bei allen Untersuchungen, die Ärzte verlangten stets ohne Umschweif den gesunden Körper zu sehen, flüsterte ihm der Rücken zu, daß er sich gar nicht erst ausziehen solle. Die Weinstube war also doch kein Irrtum gewesen, es leuchtete auch noch aus den Wülsten.
    »Das ist der Mann …«, sagte der Sanitätsunteroffizier.
    »Ich weiß.« Der Stabsarzt nahm Ginster so behutsam in Augenschein, als trage er die Aufschrift Nicht stürzen. Ginster machte sich leicht wie auf der Personenwage, fast wäre er schon durch die auf ihn gerichteten Blicke umgekippt.
    »D. a. v. H.«, bestimmte der Stabsarzt, »nur im Innendienst zu benutzen.«
    Zum Glück gelang es Ginster im letzten Augenblick, ein Dankeschön zu unterdrücken. Unmilitärisch, nur Pflicht. Abgetreten. Warum hatte der Stabsarzt Ich weiß vorhin gesagt. Dauernd arbeitsverwendungsfähig Heimat – ein Extratröpfchen. Die Abkürzungen waren sehr praktisch. Wie friedlich der Kasernenhof aussah, die Leute verschwanden auf ihm. In der Schreibstube sich melden. Nachdem Ginster hinter der Barriere sein D. a. v. H. herausgebracht hatte, war er selbst viel mehr erschüttert als Feldwebel Künzelmann, der nicht aus der Symmetrieachse wich. Offenbar gab es noch andere Fälle der gleichen Art. »Nun haben Sie endlich Ihr Ziel erreicht«, meinte der Feldwebel freundlich in zartem Karmin. Er bot seine Vorderansicht dar, aber da er ein Profil überhaupt nicht besaß, hätte er sich von jedem anderen Standort auch als Fassade gezeigt. Ginster wehrte den Glückwunsch bescheiden wie ein Künstler ab, von Verdienst keine Spur, alles rein sachlich zu nehmen, ein bloßes Ergebnis.Sein Bemühen, ebenfalls ein sachliches Gesicht zu machen, schlug fehl; zu gerührt über die Anteilnahme. Auch die Bürokanoniere gratulierten, lauter Kollegen, soviel Menschlichkeit mitten im Krieg. »An deiner Stelle würde ich mich reklamieren lassen«, riet der Bekannte aus F.
    Zu Hause – Ginster erhielt einen kurzen Urlaub – freuten sie sich über den Erfolg der Körperschwäche, um die sie sich nicht weiter bekümmerten; obwohl sie sonst sämtliche Einzelheiten ermittelten. Die Freude trat gedämpft auf, weil jetzt ein Vaterlandsverteidiger fehlte. Jeder Mann wurde gebraucht. Da Ginster einstweilen abgestellt war, widmete sich die Tante wieder länger der Allgemeinheit. In ihren Gesprächen herrschte viel mehr Krieg als zwischen den Karabinern, Ginster glaubte aus dem militärischen Hinterland an eine private Front versetzt worden zu sein. Wurde daheim auch nicht an einen Sieg gedacht, so strebte man doch nach einem ehrenvollen Frieden, unter dem man den Sieg verstand. »Ein Diktat der Feinde wäre eine unerträgliche Demütigung«, sagte die Tante. Nach dem Abendessen erzeugte sie besonders starke Gefühle, ohne zu Ginsters Verwunderung die wirklichen Vorgänge zu kennen; denn oft genug erklärte sie selbst, daß wir schändlich belogen würden. Wenn es sich noch um eine grundsätzlich unbekannte Geliebte gehandelt hätte – aber er konnte doch nicht, der Tante zu Gefallen, einfach im Freien Gefühle haben. »Besitzt ein ganzes Volk überhaupt Ehre?« fragte er den Onkel. Schon mit der eigenen wußte er nicht recht umzugehen. In den Studentenjahren hatte ihn einmal ein Bekannter erst darauf aufmerksam machen müssen, daß sie gekränkt worden war. In der Regel entwich er lieber ungesehen, als ihr öffentlich zu begegnen; ein persönlicher Sieg aber hätte siebestimmt empfindlich verletzt. Vermutlich hing sie auch mit den Männern zusammen, er mußte sich also an sie gewöhnen, wie an ein Eigentum, das in einer Glasvitrine stand. Vorläufig sprach ihm der Onkel jedes Ehrgefühl ab. Oft war er plötzlich böse, ließ sich jedoch leicht wieder versöhnen. In dem alten braunen Schlafrock wanderte er meistens vom Wohnzimmer zum Schreibtisch, auf dem sich inzwischen, vielfach geklebt, die französische Revolution angehäuft hatte. Es ging dem Ende zu, mitten ins neunzehnte Jahrhundert hinein. »Hat sich eigentlich nach der Revolution etwas geändert?« erkundigte sich die Tante. Der Onkel gab geringfügige Änderungen zu, behauptete aber dann, daß sich die Geschichte in Wellen bewege. Die Tante war mehr für Spiralen. »Wenn wir den Krieg verlieren«, meinte sie, »gibt es vielleicht auch bei uns Revolution.« Die Weltgeschichte ließ sich im Zimmer nicht greifen, sie rauschte körperlos über die Menschen

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