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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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schoß es Ginster durch den Kopf. Er lud sich den Karabiner auf. Mit einem Vorgesetzten essen – auf alle Fälle wollte er sich nach der allgemeinen Körperschwäche etwas Gutes bestellen. Wenn das Büro wieder abgerissen wurde –. Den Leuten im Schlafsaal antwortete er nur, daß noch unbestimmt sei, ob die Krankheit ihm gehöre oder nicht. Nachmittags trank er allein im Erdgeschoßsaal Kaffee und grübelte über den Sanitätsunteroffizier. Nichts nach Hause schreiben. Die Traube war ein kleines Lokal mit Holzvertäfelungen für die Bürger. Ginster machte vor dem Sanitätsunteroffizier Front, der ihn so gleichberechtigt zum Sitzen einlud, als sei Ginster mindestens ein Gefreiter. Dennoch nahm er nur auf einer Stuhlkante Platz. Höflicher Streit über die Speisekarte, nicht so förmlich, jawohl, wenn der HerrSanitätsunteroffizier gestatten. »Was Ihre Visite morgen beim Stabsarzt betrifft …«, begann der Sanitätsunteroffizier. Ginster horchte gelähmt. Der Sanitätsunteroffizier erklärte den Stabsarzt: ein völlig unberechenbarer Herr; möge schwarze Bärte nicht leiden; werde vermutlich die Körperschwäche widerrufen. »Dann wäre es ja besser gewesen«, sagte Ginster gepreßt, »wenn der Unterarzt … der Herr Unterarzt …« Alles vorbei, lieber aufs Essen verzichten.
    »Lassen Sie mich nur machen.« Der Sanitätsunteroffizier hatte auf einmal richtige Gönnerbacken. »Wie wäre es mit einem Extratröpfchen nach dem Essen, ich werde den Stabsarzt schon für Ihr Leiden gewinnen. Übrigens hat der Wirt heute eine Geflügelsendung erhalten.«
    Der Fall war geklärt: Die Unberechenbarkeit des Stabsarztes hing mit den Wülsten zusammen, und zwar verringerte sie sich im gleichen Maße, in dem diese Gelegenheit zum Anschwellen erhielten. Je stärker sie wurden, desto mehr füllten sich die Büros; während ihre Abnahme ein Zeichen für den Zuwachs an Kriegstüchtigkeit mancher Kanoniere war. Ginster erinnerte sich der Andeutungen Müllers über die Zustände in K. und konnte sich eines gewissen Triumphes nicht erwehren. Allerdings hatte er die Bestechung nicht eingeleitet, aber immerhin traute ihm doch der Sanitätsunteroffizier die Fähigkeit zu, bestechen zu können. Wenn er sich die Ereignisse von heute vormittag vergegenwärtigte, entdeckte er sogar eine ausgesprochene Begabung zum Hochstapler in sich, die freilich noch unausgebildet war. Hatte er sich nicht dem Unterarzt gegenüber als gesund ausgegeben und gerade dadurch den Eindruck der Mattigkeit erweckt? Bitte ja, auch ein Gläschen. Bei dem Gedanken, ein Hochstapler zu sein, wie sie in den Hotelhallen saßen, jauchzte Ginster unhörbar vor Übermut. Der Sanitätsunteroffizier hatte jede Furchtbarkeit für ihn verloren; eine dick hingekleckste Theaterdekoration bei Tageslicht, erstaunlich, daß sie überhaupt auf der Bühne eine Wirkung erzielte. Da die Stumpen nicht schlau genug waren, ließ er große Zigarren mit Bauchbinden kommen. »Entsinnen Sie sich eines Mannes namens Ahrend …« In einem lässigen Gesellschaftston angestrengt geplaudert, um den Sanitätsunteroffizier abzulenken. »Nun also, Vizefeldwebel Leuthold …« – es trieb ihn immer weiter, obwohl er spürte, daß er viel zu gesprächig wurde. Der Sanitätsunteroffizier schenkte sich aus der zweiten Flasche ein; das Extratröpfchen. »Ja, ja, lassen Sie mich nur machen.« Er wollte nicht gestört werden und versank, ohne noch zu erwidern, nach und nach in seinen eigenen Polstern. Bald war er ganz unter dem Stoppelfeld entschwunden, auf dessen breiter Fläche jetzt Ginster stumm schlenderte. Frau van C. fiel ihm ein, das Gespräch an jenem Abend nach dem Caspari-Vortrag. Er hatte sie vergessen gehabt. Der Handballen damals, ein solcher Glanz, vielleicht begegnete er ihr mit seiner Körperschwäche doch wieder. Vorher mußte er schlafen. Beim Abschied fremd stramm gestanden wie auf dem Kasernenhof; alles aus Hochstapelei. Am nächsten Morgen das lange Warten im Revier – viel zu viel Nacht lag zwischen gestern und heute, der Wein war heruntergespült, die Fensterquadrate ließen nichts ein. Zwar hatte sich der Sanitätsunteroffizier, der das Zimmer des Stabsarztes erfüllte, durch sie hindurchgezwängt, möglicherweise aber lebte er immer im Revier, und der Abend war nur ein Traum. Sein Rücken wölbte sich über dem Stabsarzt, der zu einer hellblonden Fläche verschwamm, die sich, merkwürdig genug, nicht bewegte, sondern unausgefüllt standhielt. Als Ginster sofort nach seinem Eintritt

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