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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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hinweg. Ein Schauer der Verlassenheit durchfuhr Ginster; weder hier unter der Lampe noch in ihrem Rauschen dort traf er sich an. Dazwischen so leer. An der Wand hing das Oval der Urtante im Krinolinenrock. Das Gesicht des Onkels war eingefallen, die Haut indessen schmiegte sich den langsam sinkenden Wölbungen nicht überall an, sondern bauschte sich um einige Trümmerstätten wie der Schlafrock, der einer Grotte gleich dem Leib in seinen Hohlräumen Asyl gewährte. »Frau Biehl …?« – manchmal antwortete die Tante auf eine selbst gestellte Frage, die aber nach ihrer Überzeugung von anderer Seite an sie gerichtet war. Beschäftigte sie ein Gegenstand lebhaft, so spaltete sie sich gewöhnlich in mehrere Personen, mit denen sie sich unterhielt; nicht selten fiel sie ihnen ins Wort. Statt durch den Tod ihres Mannes vollends vernichtet zu werden, glich Frau Biehl im Gegenteil, wie dieTante erzählte, einer Geretteten. Der Tod hatte sie mit der Zuverlässigkeit einer Feuerlöschmannschaft gerade noch rechtzeitig der Brandkatastrophe entrissen, in der sie ohne seine Hilfe verkohlt wäre. Ginster wollte wissen, was jetzt mit den Präpositionen geschehe. »Denke dir, sie spricht wieder und bekümmert sich um die Leute«, sagte die Mutter, die vor Erregung über den Fall eine Masche verlor und nun starr dasaß.
    Sie bestand darauf, daß Ginster sich sofort um eine Stelle bemühe. Geld verdienen, Architektur besser als Krieg. Die Lücke, die das D. a. v. H. geschaffen hatte, schloß sich von neuem. Da aus Herrn Valentins Brummen hervorging, daß er in Ermangelung von Aufträgen jetzt nur im Hinterzimmer wohnte, abonnierte sich Ginster auf eine Fachzeitschrift und schrieb Bewerbungsgesuche, in denen der Lebenslauf eine ganze Seite füllte. Daß sein Leben schon eine solche Länge hatte, überraschte ihn um so mehr, als er bei den in den Gesuchen angegebenen Ereignissen immer abwesend gewesen war. Man lernte den eigenen Ablauf erst aus den Bewerbungen kennen. Trotz seiner Unlust am Architekturleben zog er es dem Kasernenleben vor, das sich seit dem Unterarzt im Keller abspielte. Mit noch ein paar untauglichen Leuten, von denen freilich niemand eine allgemeine Körperschwäche hatte, mußte er gegen die Feinde Kartoffeln schälen. Die Kartoffeln quollen aus einem Riesenkübel, um den sie in ihren Drillichanzügen auf Hockern saßen, denen die Hinterteile entquollen. Alles quoll. Ginster hätte nicht für möglich gehalten, daß die einzelnen Eßrationen sich zu einer so großen Kartoffelmenge zusammensetzten, woher kamen überhaupt die Kartoffeln. Im Naturzustand sah er sie hier zum erstenmal; die Schalen feucht und mit Erde bedeckt. Es schmeichelte ihm doch etwas, daß er anihren Anfängen teilnehmen durfte und in der Kaserne ab und zu nach ihnen gefragt wurde. Allerdings stach er ihnen nicht nur die Augen aus, sondern schnitt gleich ganze Fleischbrocken weg. Von den kleineren Exemplaren blieb nichts mehr übrig, und auch sonst wurden kaum Gefangene gemacht. Dabei lag ihm jede Grausamkeit fern, das Messer war schuld. Je angestrengter er schälte, desto weniger erhielten die Kanoniere zu essen. Am liebsten zielte er mit den fertigen Stücken nach dem Korb. Oft klebten die Leute dünne Kartoffelscheibchen an den Ofen, die langsam rösteten. Um dem unterirdischen Gemetzel zu entrinnen, stahl sich Ginster nicht selten auf den Kasernenhof und beobachtete seine alte Korporalschaft. Aus Vorsicht blieb er am Hofrand. Einmal – Unteroffizier Wernecke war gerade nicht in der Nähe – warf ihm Knötchen die Korporalschaft wie einen Schleuderball zu, ließ sie Front machen, als sei Ginster ein Offizier, und schließlich sich rühren. Ja schon, meinte Schalupp, während Göbel sich in die Länge zog. Höchstens war er ein Lebenslauf. »Jetzt sind Sie fein heraus«, sagte Knötchen zu Ginster, der Zigaretten verteilte. »Ach, immer die Kartoffeln …« Ginster schämte sich ihrer inmitten der Mannschaft und hätte im Augenblick gern wieder mitgeübt. Die Korporalschaft hatte so rote Backen, schon war er ihrer Sprache entfremdet. Wie ein ausgestoßener Standesgenosse kehrte er zu den Kartoffeln zurück, die nicht aufhören wollten. Erst nach mehreren Wochen wurde er von ihnen getrennt. Zwar quollen sie auch dann noch im Keller, aber das Stadtbauamt in Q. hatte ihm inzwischen auf seine Bewerbung hin zugeschrieben und bereits die Reklamation eingeleitet. Im Augenblick ihrer Genehmigung war Ginster zumute, als rolle er selbst aus dem

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