Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
Vom Netzwerk:
Dauersitzungen beraten wurdeund darum für Außenstehende undurchsichtig blieb. Aus Anstand spiegelte er Ginster zwar nicht vor, in die Sitzungen eingeweiht zu sein, ließ ihn indessen immer merken, daß Menschen ohne Sitzungen überhaupt nichts besagten. Glaubte Ginster nach einer Schiffsversenkung das Kriegsende nahe, so ward ihm der Bescheid, daß noch ganze Flotten vorhanden seien. Zeigte er sich über eine Niederlage bedrückt, so wies ihn Herr Valentin auf günstige Möglichkeiten hin, die erwogen werden mußten. Es handelte sich in der Regel um Zentimeter, die Ginster zu berücksichtigen vergessen hatte. Der Anstand erstreckte sich auch auf die Handwerker und Geschäftsleute, er begann schon vormittags, wenn Herr Valentin bisweilen ohne Kragen erschien, ein mühselig errichteter Anstand, der wie ein Geländer vor Abstürzen bewahrte. Gerade in den unrasierten Frühstunden freilich, in denen die verblichene Herrlichkeit des Oberhemdes noch ungehindert durch die Weste zutage trat, brummte Herr Valentin am meisten über das von ihm selbst hochgeführte Geländer, von dem er sich gern unabhängig gemacht hätte. Man stürzte schließlich nicht immer ab, und ein ungesicherter Weg brachte oft schneller zum Ziel. In dem Fall des Architekten Neumann versäumte er es, ihn rechtzeitig zu begehen. Jener Architekt hatte ihm in letzter Minute einen größeren Auftrag weggeschnappt, um dessentwillen Ginster hauptsächlich angestellt worden war. Da das Verhalten Neumanns äußerlich keinen Angriffspunkt bot, mußte sich Herr Valentin damit begnügen, einen beleidigenden Brief an ihn zu richten, dem er die Adresse: »Herrn Bautechniker Neumann« gab. Aus dem herabsetzenden Ausdruck Bautechniker sprach die Reue über den Anstand, der die Schuld an dem Fehlschlag trug. Übrigens hatte Herr Valentin so wenig wie Architekt Neumanndas Examen an einer technischen Hochschule gemacht. Kurze Zeit nach dem Eintritt Ginsters wurde Neumann zur Genugtuung Valentins zum Militär eingezogen. Die Genugtuung erhöhte sich anläßlich folgenden Vorfalls, den Herr Valentin mit zurückgedämmtem Triumph erzählte: er hatte beobachtet, wie der Gemeine Neumann einen Handkarren über die Straße drückte. Dabei wäre nichts weiter gewesen, aber der Gemeine Neumann kam mit seinem Handkarren an einem Rohbau vorüber, den er selbst ausführte. Alle Maurer unterbrachen die Arbeit, um auf ihren Brotherrn herabzusehen, den Bautechniker, der den Handkarren schob; ein köstlicher Anblick, wie Herr Valentin meinte.
    Die Bürotür lag einem kleinen Wohnflur gegenüber, an dessen Garderobeständer stets private Kleidungsstücke hingen, die Ginster nicht unterzubringen wußte. Zur Rechten des Flurs befand sich ein Schreibgemach, das früher nur eine Speisekammer gewesen sein konnte. Das Schreibgemach wiederum stand mit einem Hinterzimmer in Verbindung, in das man auch unmittelbar vom Büro aus gelangte. Es dauerte eine geraume Zeit, bis Ginster sich über die Beziehungen der drei Stuben zum Wohnflur und untereinander vergewissert hatte. Trotz des geringen Platzes, den die Stuben einnahmen, waren sie schwierig zu übersehen, ein Labyrinth wie die Altstadt, die Türen wechselten ihre Stelle und manchmal kam eine neue Stube hinzu. Herr Valentin verschwand jeden Tag in dem Hinterzimmer, in dem er lange Stunden verweilte. Ob er sich wirklich dort aufhielt, ließ sich freilich nicht ermitteln; vielleicht ging er längst auf der Straße. Ginster zeichnete mit dem Rücken gegen das Zimmer. Einmal betrat er es in der Abwesenheit Valentins; eine Höhle eher als ein richtiges Zimmer. Kaum ließ das Fenster Lichtherein, die Hofwand stieg vor ihm auf. Der Schreibtisch sowohl wie der Wandschrank waren verschlossen; daher das Knacken, das ab und zu aus dem Zimmer drang. Die Schlüssel mußten zweimal umgedreht worden sein, so endgültig zugesperrt sahen die Schubladen aus. Über den Wandschrank, in dem vermutlich eine eiserne Ladenkasse stand, strich die Tapete unnachsichtig hinweg. Gesetzeskommentare füllten das Bücherbrett, gedrungene, unmodische Bände, die an Herrn Valentin selbst gemahnten und offenbar mit den Besuchen zusammenhingen, deren Stimmen nicht selten durch die Bürotür schlugen. Ginster sah sie nicht kommen und gehen, er hörte nur die Stimmen, ohne das Gesprochene zu verstehen. Das Beste war, an den Ladenumbauten weiterzuarbeiten, mit der peinlichen Treppe und der Galerie. Die Genauigkeit verschaffte ihm eine gewisse Befriedigung. Später saß die Treppe

Weitere Kostenlose Bücher