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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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ganz natürlich im Raum, und niemand merkte ihr mehr an, daß sie vorher keine Treppe gewesen war, vielmehr eine bis auf den Millimeter ausgesponnene Zeichnung. Wenn die Stimmen sich besonders laut erhoben, entsann sich Ginster seines Vaters im Streit. Die Stimmen hier gingen ihn nichts an, aber er fühlte sich doch von ihnen bedrückt, als werde er selbst gescholten. Nach solchen Gesprächen erschien Herr Valentin zerzaust und schnaufend wieder an der Oberfläche, einem Bewohner der Beletage gleich, der in dem finstern Winkel eines Hinterhauses überfallen worden war. Aus der Art seines Brummens ließ sich erkennen, ob es ihm gelungen war, die Räuber niederzuwerfen, oder ob sie ihn glücklich um das Letzte gebracht hatten. Was eigentlich in dem Hinterzimmer geschah, vernahm Ginster nie; es sei denn, daß der Buchhalter Uhrich Andeutungen machte, die auf Häusermakler und Grundstückgeschäfte zu schließen erlaubten. Uhrich verbrachte sein Dasein in der gewesenen Speisekammer. Die Andeutungen erfolgten in Selbstgesprächen, zu denen er sich während der Abwesenheit des Chefs genötigt fühlte. Er marschierte dabei in der Kammer auf und ab, tauchte von Zeit zu Zeit an der Bürotür auf und kehrte wieder um. Etwas war in ihm gefangen gesetzt und wollte heraus. Beinahe jeden Vormittag verließ Uhrich für eine Viertelstunde sein Zimmerchen; die Befreiungsversuche nahmen nach der Rückkunft an Heftigkeit zu. Erst später erfuhr Ginster, daß es ihn in der Viertelstunde an den Entstehungsort des Branntweingeruchs zog, zur Destille im Erdgeschoß, wo auf den Regalen die Flaschenbatterien sich bunt wie Papageiengefieder reihten. Dort beobachtete er ihn von der Straße aus, vor sich ein rotes Gläschen. Das Gesicht Uhrichs schien als Hackbrett gedient zu haben, viel übriggeblieben von den Backen war nicht. Er mochte älter als Herr Valentin sein, dessen träges Brummen im Lauf der Jahre auf ihn abgefärbt hatte. Ein solcher Fall von Mimikry war Ginster zuerst in der Gemäldegalerie F.s begegnet. Jahrzehnte hindurch hatte ein Aufseher dieser Galerie seinen Posten in einem Saal, der ein berühmtes Stifterbild enthielt. Wie Ginster bei wiederholten Besuchen fortlaufend feststellte, paßten sich die Züge des Beamten mehr und mehr der im Vordergrund knienden Stifterfigur an, einer bedeutenden historischen Persönlichkeit, der verschiedene Dissertationen gewidmet waren; über das Urbild der Figur konnte eine völlige Einigkeit wissenschaftlich noch nicht erzielt werden. Durch ein Telefongespräch Uhrichs wurde Ginster mit einigen Umständen bekannt, die das Hackbrett erklärten, in dem sich um jene Zeit gerade neue Vertiefungen wie von Kratzern und Schnittwunden zeigten. Der Apparat war an einer Wand des Bürosbefestigt, telefoniert werden sollte nur über die Läden. Uhrich erkundigte sich bei einer weiblichen Person, ob passende Partien auf Lager seien; die betreffende Person wisse schon, worum es sich handle. Es handelte sich, nach den Monologen zu schließen, um dies: infolge einer Auseinandersetzung zwischen Uhrich und seiner Frau hatten sich jene neuen Vertiefungen gebildet, die ihn zur Scheidungsklage bestimmten. Er war bereits zum zweiten Male verehelicht. Das Telefongespräch wurde mit seiner ersten Frau geführt, die mittlerweile ein Heiratsbüro aufgetan hatte. Die Frage nach den Partien galt einer dritten Frau, die auf Grund des Gutachtens der ersten die zweite ablösen könne. Noch waren auf den Backen kleine Stellen unbesetzt. Niemals redete Uhrich über die Häusermakler zu Ginster. Herr Valentin schien ihn in der Hand zu haben, vielleicht eine Geschichte von früher. Hie und da tobten beide Stimmen im Hinterzimmer, gefangen, immer im Kreis. Dann kam Herr Valentin als Sieger hervor.
    Links an den Büroeingang grenzte im Wohnflur eine Türe, die immer verschlossen blieb wie die Tür im Märchen, durch die der Prinz nicht eindringen darf. Alle anderen Räume darf er betreten, der eine hinter dieser Tür ist ihm verwehrt. Der Prinz betritt ihn dann doch und erntet nach gefährlichen Abenteuern die Prinzessin, die zu ihm paßt. Ginster war kein Prinz, er ging an der Tür vorbei ins Büro zu den Läden; wobei er es nicht vermeiden konnte, einen Blick in die Küche zu werfen, die weder ein Glück noch ein Geheimnis barg, da ihre Tür immer offen stand. Sie lag an der Schmalwand des Flurs, ganz links, der Schreibkammer Uhrichs gegenüber. Gegen Mittag sandte sie Gerüche ins Büro hinüber; das Haus war alt, die

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