Ginster (German Edition)
Gespräch zu zweit zurückziehen wollte, fischte sie ihn vom gegenüberliegenden Tischende heraus. Sondergruppen waren unsozial. Die Unterhaltung sollte allgemein sein und ziellos verlaufen wie ein Spaziergang, Unterhaltung an sich, man ging auch nicht in bestimmter Absicht spazieren. Schweigend saß die Mutter dabei. Sie freute sich, wenn alle durcheinander schrien; früher hatten ihr die Menschen gefehlt. Jetzt konnte sie nicht mehr ganz eindringen, aber manchmal fuhr sie doch auf, eine Stimmgabel, die angeschlagen wurde. Nur bestimmte Dinge rissen sie aus der Befangenheit, die wie ein schwerer Gipsverband um sie lag. Dann sagte sie ja oder nein, sprachliche Übergänge kannte sie nicht.
An einem Sonntag traf als erste Frau Biehl ein, kurz nach fünf Uhr. Sie war schon im Studierzimmer gewesen, um sich vom Onkel Erklärungen zu holen, deren sie gar nichtbedurfte, aber es machte ihn glücklich, und sie redete sich ein, daß sie die Zusammenhänge zu erfahren begehre. Das Erlernte wurde später so von ihr umgestaltet, als habe sie niemals die Auskünfte empfangen. Der Onkel klebte auch Sonntags, weil noch so viele Jahrhunderte folgten. Obwohl Frau Biehl wieder einer Überschwemmung zum Opfer gefallen war, aus der sie nur das Notwendigste retten konnte, bewies sie doch eine Heiterkeit, die Ginster erstaunte. Die Nachricht über den vielleicht verbrannten Sohn hatte längst in ihr die Gewißheit hervorgerufen, daß der Sohn in sicherer Gefangenschaft saß. Niemand war Zeuge des Unglücks gewesen, und es gab Gefangenenlager, aus denen monatelang kein Laut an die Außenwelt drang. Weilte der Sohn nicht mehr unter den Lebenden, sie hätte es deutlich gespürt, mit ihren Vorgefühlen, die immer ohne Bestätigung blieben und gerade darum ihr Vertrauen erweckten, denn die Wirklichkeit galt ihr als Fälschung. Jeden Tag mußte eine Zeile kommen, morgen vielleicht, oder erst am Ende der Woche, was aus manchen Gründen wahrscheinlicher war. Während Frau Biehl die Zeile erwartete, saß ihr Mann zu Hause, er ging nur selten aus, ein grauer, abgegriffener Mann, der unausgesetzt Grammatik studierte, aber nicht die ganze Grammatik, sondern lediglich Präpositionen, vor denen seine Schüler zitterten, weil immer neue hinzutraten, die er entdeckte; wie Sterne am Nachthimmel, wenn man lange hinaufsah. Otto war im Feuer gewesen, erzählte Frau Biehl, sie hatte es gestern von seiner Mutter gehört, die einem Kaffeewärmer gleich vor sich hingebrütet und dazu mit dem Kopf genickt hätte, eine kleine Pagode. Ginster war über die Ereignisse durch Otto selbst unterrichtet. Sie schrieben sich oft. Er schämte sich, an Otto zu schreiben, wo doch daheim nichts geschah,aber Otto wollte jede Einzelheit wissen. In seinen Briefen stand stets wieder von den Gräben, dem Dienst und der Artillerie, ohne Abwechslung, überall Gräben. Die Briefe waren mit Tintenstift geschrieben, und ob sie auch von Alarm und Patrouillen berichteten, unerschüttert reihten sich Haar- und Grundstriche aneinander, lange Satzperioden durchmessend, wie früher in M. Füllfederhalter gab es draußen nicht. Neulich hatte Otto aus einem Ruheaufenthalt seine Photographie geschickt: ein rechteckiger Kasten, der verdrossen dastand. Manchmal waren die Briefe befleckt und rochen nach Erde.
Bankdirektor Luckenbach erschien mit Frau, seltene Gäste beim Tee. »Nein, das ist aber schön«, brach die Tante los, »erzählen Sie doch …« Immer sollte erzählt werden. Ginster mußte den Onkel aus dem Studierzimmer holen, Luckenbachs wegen, auch war der Tee eingeschenkt. Der Onkel verzögerte gern sein Auftreten bis zur letzten Minute, weil er nicht mitten im Satz aufhören wollte und sich an der allgemeinen Begrüßung erfreute. Da ihn auch die Unterbrechung am Satzende unangenehm berührte, war es schwierig, ihn vom Schreibtisch zu locken. Am ehesten ließ er sich nach dem Abschluß eines Jahrhunderts zum Teetrinken bewegen; aber solche Einschnitte erfolgten fast nie. Bankdirektor Luckenbach trug einen Leib vor sich her, der rosa sein mußte, hochschwanger, in Pastell. Der Krieg hatte gerade Rückschritte gemacht, keine größeren Siege. Die Tante schimpfte auf die Heeresleitung, die ihre Truppen schlecht verteile; zu weit auseinander, die Herren sind nicht klüger als wir. Der Onkel verteidigte die Heeresleitung, er glaubte an die Autorität, solange vergangene Akten sie nicht widerlegten. Vor einigen Jahren hatte er im Archiv des Großen Generalstabs gearbeitet, um einen
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