Girlfriend in a Coma
niemand gern vor der Nase - Wendy gibt. Versager sind die dunkle Seite der Gesellschaft, und sie machen den Menschen solche Angst, daß sie klein beigeben. Ich brauche unbedingt noch was von dem Gesöff, Linus? Ich will noch was von diesem gelben Zeug. Jetzt gleich! Aber dalli!« Linus warf Hamilton einen vernichtenden Blick zu. Pam sagte: »Hol's dir selbst, Hamilton, du einbeiniges Schwein. Und wenn du schon dabei bist, bring mir auch was mit.« Die Karten blieben auf dem Tisch liegen. Wendy baute aus ihren Chips winzige Angkor-Wat-Türmchen, genauso, wie sie etliche Jahre zuvor am letzten Schultag Steine aufeinandergeschichtet hatte. Wir blieben den ganzen Abend beim gleichen Thema, einer eingehenden Untersuchung all dessen, was bisher aus uns geworden war. Wir übten schonungslose Selbstkritik, addierten, subtrahierten und führten uns das Leben anderer Leute vor Augen. Zu unserer Beruhigung konnten wir feststellen, daß dieses sich als ebenso unbeständig erwies wie das unsere. Ich warf die Frage auf: »Haben Tiere Freizeit? Ich meine, gehen sie .sich je ›amüsieren‹? Oder hat alles, was sie machen, nur mit Futter und Schutz "vor Feinden zu tun?«
»Es gibt Falken«, sagte Linus, »die sich von der Thermik in den Bergen tragen lassen und stundenlang keinen Flügel rühren. Sie machen noch nicht mal Jagd auf Nagetiere - sie reiten nur den Wind.«
»Hunde haben Freizeit«, sagte Pam. »Sie jagen ›Stöckchen. Balgen sich auf dem Teppich. Haben einen Riesenspaß.“
»Ich weiß nicht«, sagte Wendy. »Falken sind immer auf der Suche nach Futter. Hunde, die Stöckchen jagen, frischen nur ihre Rudelmentalität auf. Nebenbei gesagt haben Tiere gar keine Zeit. Nur Menschen haben Zeit. Das ist es, was uns von ihnen unterscheidet.« Wendy teilte aus wie eine Croupiergöttin. Sie massierte die Karten eher, als daß sie sie mischte - ein hinreißender Anblick.
Linus nippte an seinem Drink und sagte: »Also, meiner Erfahrung nach weiß man mit zwanzig, daß man kein Rockstar wird. Die Dreien sind in dieser Runde die Joker. Mit fünfundzwanzig weiß man, daß man kein Zahnarzt oder Akademiker mehr wird.« Wendy gab Linus einen Kuß auf die Wange. »Und mit dreißig wird es langsam finster - man bezweifelt, daß man sich je selbst verwirklichen, geschweige denn reich oder erfolgreich werden wird. Pam, willst du passen? Wach auf, Mädel. Mit fünfunddreißig weiß man im großen und ganzen, was man für den Rest seines Lebens tun wird; man ergibt sich in sein Schicksal. Mein Gott, hab' ich ein beschissenes Blatt.«
Pam sagte: »Hamilton, mein Drink? Oink?« Pam hatte sich wenigstens ihren Traum erfüllt, Model zu werden. Hamilton - welchen Traum hatte er realisiert? Er humpelte mit der Flasche zum Tisch. »Selber oink, Pamela.« Das Spiel driftete in ein freundschaftliches Geplänkel ab, und das war genau das, was wir eigentlich wollten. Wenn wir ernsthaft gespielt hätten, hätten wir Linus alle schon längst zehn Millionen Dollar geschuldet. Linus gewann immer. Hatte er bei seiner Abstecher nach Las Vegas womöglich im Casino gearbeitet?
»Ich habe mal was über eine Studie gelesen«, sagte Wendy, »in der Forscher herausgefunden haben, daß man, egal, wie sehr man sich bemüht, seine Persönlichkeit - sein Ich - um höchstens fünf Prozent verändern kann.«
»Gott, wie deprimierend«, sagte Pam. »Quatsch«, sagte Hamilton. »Niemals.« Mir wurde ganz anders. Das, was Wendy gerade gesagt hatte, erinnerte mich daran, wie unglücklich ich mit meiner derzeitigen Persönlichkeit war. Ich wünschte mir nichts mehr, als mich 100prozentig zu verändern.
Ein paar Minuten später brach Linus sein pokergesichtiges Schweigen: »Was mir auffällt«, sagte er, »ist, daß jeder allen anderen vorwirft, sie würden sich verstellen. Wißt ihr, was ich meine? Daß sie irgendwie nicht ... äh ... sie selbst sind.« Er betrachtete seinen Kahlua-Kaffee. (»Ein Teenie-Getränk«, hatte Hamilton gelästert.) »Niemand nimmt uns die Identität ab, die wir uns konstruiert haben. Ich habe das Gefühl, daß mittlerweile jeder auf der Welt ein Fake ist - als ob die Menschen früher einmal einen wahren Kern hatten, ihn jedoch weggeworfen und durch etwas ersetzt haben, das attraktiver ist, aber zugleich hohl. Spiel deine Karte aus, Wendy -« Wir pokerten eine Weile weiter, etwas benommen von Linus' langem Redeschwall der Erkenntnis. »Amen, Herr Pastor«, sagte Hamilton. »Drei Buben, und der Zaster gehört mir. Richikins, du gibst. Bist
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