Girlfriend in a Coma
zwei Stunden noch hätten sie sich nie träumen lassen, daß sie jemals so etwas Extremes empfinden könnten wie jetzt. Linus hat kurz nach neun an der Tür geklingelt. George, der in der Küche herumpusselte, nippte gerade an seinem Kaffee und überlegte, welche Azalee er am Nachmittag beschneiden sollte; Lois lag oben im Bett und dachte im Halbschlaf träge darüber nach, ob es Zeit sei, die Weihnachtsdekoration hervorzuholen. Und dann kam Linus. Sie dachten, Karen sei womöglich tot - die Lungenentzündung. Statt dessen: »Karen ist wach, Mr. und Mrs. McNeil, und sie redet ganz normal und alles. Sie hat nach Ihnen gefragt. Ich glaube, sie möchte gern, daß Sie hinfahren.«
Georges und Lois' Reaktion bestand darin, daß ihnen die Farbe aus dem Gesicht wich, sie kein Wort herausbrachten und den klumpigen Geschmack von Blut in der Kehle verspürten - beide aus unterschiedlichen Gründen. George, weil der einzige Wunsch, den er je in seinem Leben gehabt hat, in Erfüllung gegangen ist, und Lois wegen der furchtbaren Gewissensbisse, die sie quälen, weil sie so viele Jahre lang nichts mehr von Karen wissen wollte - sie hatte alle Hoffnung aufgegeben und George mehrfach vorgelogen, sie hätte sie besucht, obwohl sie es nicht getan hatte. Sie muß daran denken, daß sie diejenige war, die den »Stecker rausziehen« wollte; gestern erst hat sie im Krankenhaus gebeten: »Keine lebensverlängernden Maßnahmen - lassen Sie sie diesmal einfach geben.«
Plötzlich muß Lois sich als Bewohnerin einer Welt sehen, in der es Hoffnung gibt, und das macht ihr angst; ein Schwindelgefühl ergreift sie. Und ihr wird bewußt, daß sie jetzt anstelle einer vielleicht zwei Töchter hat, die sie hassen. In ihrem Kopf wallt eine Flutwelle auf, wie damals in Northern British Columbia, als sie noch ein Kind war und vor ihren Augen abgebrochenene Bäume, Schlamm und Uferbrocken einen Berg hinuntergurgelten.
Nachdem Linus die Nachricht überbracht hatte, ließ George sich auf einen Hocker unter einer Makramee-Eule fallen. Lois massierte ihm die Schultern und sagte Linus, sie würden sich etwas Anständiges anziehen und gleich zum Krankenhaus fahren. Ein Anruf bei Wendy bestätigte Karens Erwachen.
»Daddy?« Als George das hörte, fiel er beinahe ins Telefon. »Bist du's, Daddy? Ich bin's, Karen.« George blieb die Luft weg. Lois fürchtete einen Herzinfarkt. »Ich bin's. Ich bin hier. Ich bin ganz durcheinander. Mein Bauch juckt.« Lois schnappte George den Hörer aus der Hand. »Karen?“
»Mom?«
»Ich - hi, Schatz.«
»Hi, Mom.“
»Geht's dir gut?«
»Ich kann mich nicht richtig bewegen. Kommt her. Ich habe Hunger.«
»George, hör auf zu weinen. Karen? Wir kommen sofort.“
»Seid ihr noch in der Rabbit Lane?«
»Ja. George, sei doch mal still. Sag Karen hallo, verdammt noch mal.«
»Hi.«
»Hi, Daddy.«
George schwamm in Tränen. Lois entriß ihm den Hörer wieder: »Warte auf uns, Karen. Wir sind gleich da.« Megan war nirgends zu finden. Sie ist bei Richard. Lois schlüpfte in ein Twin-Set, legte eine Perlenkette an und spachtelte die Furchen zu, die die Zeit in ihr Gesicht geschlagen hatte. George quälte sich in seinen einzigen »guten Anzug« und verspürte einen kleinen Stich, als ihm einfiel, daß dies der Anzug war, den er für Karens Beerdigung gekauft hatte.
Beim Verlassen des Hauses war Lois, Valium im Blut, froh, daß sie ihre Figur gehalten hatte und daß ihr Haar glänzte. Die Zeit hatte ihr kaum etwas anhaben können.
Der Samstag ist kalt und klar. Ihr Atem dampft. Die meisten Blätter sind bereits gefallen, und Lois läßt das Fenster herunter und denkt an Karen, während das Krankenhaus immer näher rückt.
Lois hat stets für sich behalten, welche Empfindungen das Koma ihrer Tochter in ihr auslöste. George hat Lois nur einmal Tränen vergießen sehen. Eines Abends vor vielleicht zehn Jahren saßen sie und George zusammen vor dem Fernseher. Es lief eine Reportage über einen Geistesgestörten unten in Texas, der einen berühmten historischen Baum vergiftet hatte. Die Einwohner der Stadt versuchten, das Leben des Baums zu retten: Sie pumpten Wasser durch den Boden, um das Gift fortzuwaschen, aber der Baum war aus dem Rhythmus geraten. Er verlor seine Fähigkeit, Jahreszeiten zu erkennen. Er hatte kein Zeitempfinden mehr, warf im Herbst das Laub ab und ließ es im Winter wieder sprießen. Seine Blätter sanken ein letztes Mal flatternd zu Boden, und am Ende starb der Baum. Lois merkte, daß sie
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