Girlfriend in a Coma
der Berliner Mauer, der AIDSQuilt - Karen kommt vermutlich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Leben auf dem Mars. Velcro. Charles und Diana. MAC-Kosmetika. Kaum vorstellbar, so viel auf einmal zu lernen.
Karen und Pam haben ein paar Stunden damit verbracht, gemeinsam in Modemagazinen zu blättern. Wendy strahlte vor Freude, als sie die beiden so sah - ganz wie in alten Zeiten. Schöne Small-Talk-Bonmots: »Ach, und Karen, das Essen ist heutzutage wirklich irre. Ungefähr 1988 wurde es plötzlich gut«, sagt Pam, und Karen bekommt Lust, all die neuen Eßtrends auszuprobieren - Tex-Mex, Cajun, vietnamesisch,Thai, Nouvelle Cuisine, japanisch, euroasiatisch, und kalifornisch - »Sushi, Gourmet-Pizza, Tofu-Hot-Dogs, Fajitas, aromatisierter Eistee und alle möglichen kalorienarmen Produkte.«
In Wendys Hinterkopf spukt allerdings immer noch das Phänomen der Stereo-Heroinalpträume herum, die Hamilton und Pam hatten. Die Schwester hat Wendy das Video von den Stereo-Träumen sowie die parallel verlaufenden stalagmitenförmigen EEGs gezeigt. Jetzt hat sie also gleich zwei medizinische Rätsel am Hals. Am besten, man hält das Video unter Verschluß. Pam und Hamilton wissen nichts von seiner Existenz. Karen sollte schnellstmöglich nach Hause gebracht werden - wo die Öffentlichkeit ihr nichts anhaben kann.
Megan genießt die Besuche bei ihrer Mutter im Krankenhaus, wo sie ihr hilft, Arme, Beine und Finger zu beugen und zu strecken. Sie ist noch nie in der Lage gewesen, anderen zu helfen, und jetzt kommt es ihr vor, als habe sie ihre Zimmertür geöffnet, und davor stünde ein riesengroßes Haus voller schöner Gegenstände und Räume, die zur Erkundung einladen.
Megan ist erleichtert, daß Karen Humor hat und, obwohl sie eigentlich älter ist, praktisch genauso alt ist wie sie. »Megan, sag mal, all die jungen Mädchen, die ich heutzutage im Fernsehen sehe, sind irgendwie angezogen wie, ahm...“
» Schlampen?“
»Das hast du gesagt.«
»Das hat Lois gesagt«, kichert Megan. »Lois stammt aus einer anderen Ära, als Mädchen noch Fußabtreter zu sein hatten. Heutzutage ziehen wir Sachen an, die Stärke demonstrieren. War das bei euch anders?« Karen besinnt sich auf ihre Jugend: »Nein. Ich glaube, wir fühlten uns den Jungs gleichwertig, aber auf keinen Fall stärker als sie.«
»Da hat sich wohl einiges geändert. Wir werden bald mit dir ins Fitneßstudio gehen.«
»Ich glaube, das hat nicht viel Sinn.«
»Quatsch - Mom. « Megan liebt es, »Mom« mit besonderem Nachdruck zu sagen, jedesmal ein kleiner Seitenhieb gegen Lois.
Ja, Karen ist froh, zu sehen, daß Megan sich gegen ihre Um. weit auflehnt - und daß sie Lois widerspricht. Sie selbst hat sich das nie getraut. Außerdem ist Megan wütend - auf Richard, auf ihre Eltern und auf die ganze Welt. Karen hingegen ist sauer auf Richard, weil er bei der Erziehung Megans sowenig Einsatz gezeigt hat. Damit muß man sich in Zukunft noch auseinandersetzen. Karen ist wütend und verloren und gefunden und verwundert. Die neue Welt liegt vor ihren Augen wie eine offene Schatzkiste, ein Vogelschwarm über Afrika, tausend Fernseher, die alle gleichzeitig laufen.
Wendy denkt über Karen nach. Wie zu erwarten war, macht sie auf der ganzen Welt Schlagzeilen; eine medizinische Kuriosität, eine Geschichte, aus der man große Reportagen zimmern kann, ein gefundenes Fressen für die Boulevardpresse. Doch das einzige Foto, das die Medien von Karen haben, ist ihr altes Schulabschlußfoto. Es ist keinem Fotografen gelungen, ein neues Bild von Karen zu schießen; ein solches Foto ist inzwischen zum Goldenen Vlies des Journalismus geworden. Es hat Versuche gegeben, Verwandte zu bestechen - Wendy selbst wurde von einem französischen Fotografen angesprochen, Linus von den Deutschen. Wie dreist. Wenn man bedenkt, daß Karen sich noch nicht einmal zu ihren besten Zeiten fotografieren ließ - es wäre zu und zu grausam, sie dermaßen klapprig und ausgezehrt zur Schau zu stellen.
Ihre Freunde und Eltern wollen Karen und ihre Unverdorbenheit vor der modernen Welt und den Veränderungen, die seit Beginn ihres Schlafes eingetreten sind, beschützen. An ihrer Unverdorbenheit läßt sich die Abgestumpftheit und Verdorbenheit der anderen messen. Die Welt ist hart geworden. Sie mag weder Unkompliziertheit noch Entspanntheit. Außerdem will die Welt Fotos von Megan - dem Mädchen, das seiner toten Mutter begegnet ist. Dank ihrer Mitschüler sind Dutzende Fotos von ihr im Umlauf. Sie
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