Girlfriend in a Coma

Sehnen erst mürbe werden, bevor die Muskeln sich wieder aufbauen können. Sie kommt sich vor wie ein Gericht auf einer Speisekarte. Warum hat man sie am Leben erhalten? Es ist ihr unbegreiflich, was das für einen Sinn gehabt haben soll. Sie ist glücklich, wach zu sein, aber insgeheim entsetzt sie der Gedanke, wieviel Geld und menschliche Anstrengungen nötig gewesen sein müssen, um sie so lange zu versorgen. Was ist mit der Welt passiert? Was ist mit den Menschen in ihrer Welt passiert?
    Sie ist zwar erst seit kurzem wach, aber es gibt viele Dinge, die einfach nicht zu übersehen sind. Richard: Er ist so anders, und doch hält er sie noch genauso im Arm wie früher der Körper bewahrt Erinnerungen noch lange, nachdem das Gehirn sie vergessen hat. Sein Gesicht sieht so verwüstet aus. Vom Saufen? Wie kam das denn? Und Ham und Pam auf Heroin? Das ist ja die Höhe. Es ist, als wäre Karen 1979 durch eine Tür getreten und direkt in einem Gesundheitsvorsorgekurs gelandet, in dem ein Film über die wenig beachteten Gefahren des Alterns gezeigt wird. Wendy arbeitet hart - zu hart, wie es scheint. Sie ist - was für jeden offensichtlich ist - nicht sehr verliebt in Linus, und auch Linus nicht in sie. Seine Seele ist völlig verkleistert. Karen hat das Leben jedes einzelnen sofort erfaßt; die anderen glauben, sie sei noch längst nicht wieder soweit - sie kenne sich in der modernen Welt noch nicht genug aus -, aber Karen sieht alles. Sie erinnert sich an die unschuldigen, nichtigen Ziele ihrer gemeinsamen Jugend (Hawaii! Ski-Crack in Whistler!) und stellt fest, daß niemand etwas unternommen hat, um sie zu erreichen. Doch andererseits wurden auch nie ernsthaftere Ambitionen laut. Ihre Freunde sind nur durch Versäumnisse zu dem geworden, was sie sind. Ihre Träume sind vergessen oder wurden gar nicht erst formuliert. Ihre Clique ist nicht sonderlich glücklich - jedenfalls nicht mit ihrem Leben. Pam hat die Augen verdreht, als Karen sie fragte, ob sie glücklich sei.
    »Nein.«
    »Erfüllt?« .
    »Nein.«
    »Kreativ?«
    »Ein bißchen.«
    Mit den Monstern, die sie entwerfen, und den Fernsehserien, für die sie arbeiten, machen sie der Trauer um etwas Verlorenes Luft, die sie insgeheim verspüren. In ihrer Arbeit drückt sich Belanglosigkeit, Kummer und Korrumpiertheit aus. Karen hat sich ausgebeten, nicht noch mehr von ihren Special-Effects-Fotos ansehen zu müssen. Igitt. Die Bilder liegen auf einem Stapel neben Blumen vom Bürgermeister sowie von diversen Filmstudios und -produktionsfirmen, die die Rechte an ihrer Lebensgeschichte erwerben möchten. Zu allem Überfluß ist auch die Welt an sich nicht mehr die gleiche. Karen muß versuchen, sich siebzehn Jahre weltweiter Veränderungen einzuverleiben. Das kann warten. Und sie hat das Gefühl, sie wird verrückt, wenn ihr noch mal jemand erzählt, daß die Berliner Mauer gefallen ist und daß es AIDS auf der Welt gibt.
     
    Eine Woche später kann Wendy Karens Rückkehr zu den Lebenden und die Tatsache, daß sie dabei ihre gesamten geistigen Kräfte bewahrt hat, immer noch nicht begreifen. Wendy kennt die medizinischen Statistiken. Für andere ist Karens Erwachen ein Lotteriegewinn - ein Preis hinter der Tür Nr. 3, ein Paar Schneemobile. Aber für Wendy ist Karen ein Fluß, der rückwärts fließt, eine Rose, die im Mondlicht blüht - etwas Transzendentes, Übernatürliches.
    Wendy denkt an Karens langen Weg durch die Reha, der nötig ist, bis sie wieder einfache alltägliche Tätigkeiten ausüben kann. Spröde Knochen, atrophische Bänder. Ihr Gesicht jedoch ist bereits voller Leben, und sie lächelt so klar wie immer. Ihre Arme kann sie jetzt schon, noch etwas tattrig, bewegen, storchenbeinartige Staksen, die nach Kaugummi und der Wasserflasche tasten. Es gilt noch jede Menge Hürden zu überwinden. Karen ist wie eine Kassette mit Zeitdokumenten, die man bei einer Grundsteinlegung mit einbetoniert - ein wiedergeborenes Wesen aus einer anderen Ära, ein Lotussamen, der zehntausend Jahre geschlafen hat und so klar und wahr zum Leben erwacht, als sei er erst gestern auf die Welt gekommen.
     
    Wendy hat Angst, daß Karen mit einem Übermaß an Informationen und zuviel Ungewohntem überschüttet werden könnte. Da sie Ärztin ist, steht es in ihrer Macht, Grenzen zu setzen. Richard kommt regelmäßig mit den Jahresbänden der World Book Encyclopedia an und bringt Karen etwas über die Jahre bei, die bis 1997 verstrichen sind. Er ist bereits bei 1989 angelangt: der Fall