Girlfriend in a Coma
unten zwischen den Bäumen da liegt die Ewigkeit.“
»Weißt du, Richard ...“
»Was?«
»Dieser Abend auf dem Grouse Mountain -“
»Ja?«
»Das ist - na ja, das wird mein einziges Mal bleiben. Ich glaube nicht, daß ich damit leben kann.“
»Versteh' ich nicht. Ich meine ...«
»Richard, halt einfach einen Moment den Mund. Hör dir an, was ich fühle.«
Es folgt ein Schweigen, und dann, rums! - stemmt sich Karen unter Aufbietung all ihrer Kräfte aus Richards Armen. Sie versucht, graziös zu wirken, doch es sieht nur würdelos aus. Sie bricht auf dem matschigen Boden zusammen. Richard hat Angst, sie könnte sich etwas getan haben. Karens Kraftlosigkeit steht in auffallendem Widerspruch zu der Strenge der Landschaft. Sie versucht sich mit den Armen davonzurobben, sich wie ein Wurm Stück für Stück voranzuschieben. Die Erde beschmutzt ihr Gesicht und ihre Ärmel, ihre Miene ist grimmig und entschlossen. Mit dem Mund versucht sie den Himmel zu trinken; ihr Pullover, ihr Hemd und ihre Jeans sind kalt und naß, und ihre Finger umklammern und zerreißen einen Farn. Richard wartet, bis Karen sich ein ganzes Stück entfernt hat, dann geht er zu ihr und legt sich neben sie auf den Boden. Sie zittert, er gibt ihr seinen Mantel und sagt: »Das ist einfach nicht wahr.« Darauf hebt er sie hoch, trägt sie nach Hause und läßt den Rollstuhl einfach stehen. Er kann ihn später holen. Wenn überhaupt. »Zwei starke Arme«, sagt Karen. Richard sagt »Ja« und küßt sie.
19
Träumen, obwohl man hellwach ist
Pams Entzug war nicht so schwierig wie Hamiltons - sie hatte vor allem mit Krämpfen, ewig andauernden Menstruationsbeschwerden, Verstopfung, Kopfschmerzen und Schwindel zu kämpfen. Heute chauffieren die beiden Karen kreuz und quer durch die Stadt und zeigen ihr lauter neue und moderne Dinge. Die Sonne ist zum Vorschein gekommen - kalt und ausgeblichen, kraftlos und tief steht sie draußen am Horizont, jenseits von Burnaby und dem Mount Baker; alle brauchen eine Sonnenbrille. Karen ist in einen elfenbeinfarbenen Lammfellmantel von Pam vergraben. » Tres glam, Kare, du sexy Entzugskätzchen. Miau.« Hamilton hat Karen mit speziellen Nylongeschirren für Beine und Brust an den Beifahrersitz geschnallt, sorgfältig ihre Halsschiene überprüft und Richard versprochen, daß er immer unter dem Tempolimit bleiben wird. Ihm fällt Karens Stimmung an diesem Morgen auf: heiter, lebhaft und redselig. Dafür gibt es einen guten Grund. In der letzten Nacht haben Karen und Richard unbeholfen, aber zärtlich miteinander geschlafen, und danach hat er ihr einen Heiratsantrag gemacht, und sie hat angenommen. Tja, Richard, ich bin vierunddreißig, und ich kann an zwei Fingern abzählen, wie oft ich Sex hatte.
Inzwischen ist Karen schon oft mit ihren Eltern und Freunden ausgefahren und hat die Veränderungen besichtigt, die der Fortschritt angerichtet hat. Sie hat gesehen, wie Vancouver sich vervielfacht und in Frachterladungen von ausländischem Geld schwimmt. Blaue Glastürme, zwischen denen kanadische Gänse in V-Formation hindurchfliegen, sich in den Straßen stauende Range Rover, chinesische Straßenschilder und Kinder mit Handys. Die neue Stadt gefällt Karen recht gut, ebenso wie die kleinen Dinge des Lebens, die neu sind: blauer Nagellack, Hygieneartikel, bessere Pasta. Karen wünschte, sie könnte in den Kaufhäusern einkaufen, aber neulich hat eine Exkursion in die Park-Royal-Mall einen derartigen Tumult verursacht, daß sie eine solche Unternehmung nicht wiederholt haben. Der Sinn und Zweck des heutigen Ausflugs ist theoretisch, die Zeitschrift Royalty zu kaufen. Karen will Bilder von Prinzessin Diana sehen. Sie kann es nicht fassen, daß sie das gesamte Märchen verpaßt hat - die Hochzeit, die Kinder, die Affären, die Scheidung und schließlich ihre Wiedergeburt als Privatperson - und dann das Ende. Dianas Leben ist eines der wenigen Dinge, die sie mit Neid erfüllen, weil sie nicht dabeigewesen ist. »Pam, das ist genau wie in der High-School, als wir glaubten, alle gehen auf Partys und amüsieren sich, bloß wir nicht.“
»Aber Karen, ich kann mich nicht erinnern, so etwas gedacht zu haben.«
Ein Seufzer. »Gott, ihr gutaussehenden Menschen macht mich noch verrückt.«
Hamilton ist heute morgen grantig, Pam ist reserviert, und Karen ist mit dem beschäftigt, was sie draußen sieht und was sich in ihrem Kopf abspielt. Drei Menschen, die in demselben Auto sitzen, aber nicht wirklich zusammen sind. »Guckt
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