Giselles Geheimnis
sicherlich viele Angehörige seines Geschlechts reizen.
Feuer und Eis, das war es, was sie war. Wie viele Liebhaber mochte sie gehabt haben? Die Frage schlich sich an ihn heran, bevor er sie aufhalten konnte. Zwei? Drei? Auf jeden Fall nicht mehr, als sich an den Fingern einer Hand abzählen ließ.
Grundgütiger, in welche Richtung wanderten seine Gedanken bloß?! Das musste aufhören, sofort. Musste daran gehindert werden, Fuß zu fassen und wilde Blüten zu treiben!
„Was ist Ihren Eltern zugestoßen? Meine starben bei Hilfsarbeiten in einem Erdbebengebiet. Ein Nachbeben brachte das Haus zum Einsturz, in dem sie sich befanden. Nach ihrem Tod wollte ich darüber reden, doch man ließ mich nicht. Vermutlich dachte man wohl, es wäre zu …“ Er brach ab.
„Zu schmerzhaft“, beendete Giselle mit brüchiger Stimme seinen Satz.
Die feindselige Konfrontation zwischen ihnen war in eine ganz andere Richtung geschwenkt, auf ein Gebiet, das Giselle vertraut war, das sie jedoch nie wirklich erkundet hatte. Weil sie zu große Angst davor hatte? Weil es zu sehr schmerzte?
Sie redete sehr langsam und sehr leise, als sie weitersprach, ihre Kehle war rau. „Meine Mutter und … mein kleiner Bruder kamen bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Mein Vater starb sechs Monate später an einem Herzinfarkt.“
„Das tut mir leid.“ Und ja, es tat ihm wirklich leid, wie ihm klar wurde. Er bedauerte das kleine Mädchen, das sie gewesen war, bedauerte ihren Verlust, bedauerte, dass er die Frage gestellt hatte, jetzt, nachdem er von der Tragödie erfahren hatte.
„Das Leben ist so schrecklich vergänglich“, hörte Giselle sich sagen. „Mein Bruder war erst sechs Monate alt.“ Ein Schauer überlief sie. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie Eltern mit dem Verlust eines Kindes fertigwerden. Oder wie sie die Verantwortung ertragen können, ein so junges Leben beschützen zu müssen. Ich habe seither keine Minute Frieden mehr gehabt. Ich könnte niemals … Ich würde diese Verantwortung nicht wollen.“
Die Endgültigkeit ihrer Worte fand ein Echo in seinen Gedanken.
Sie hatte viel zu viel gesagt, hatte viel zu viel preisgegeben, wurde Giselle klar. Auch wenn sie ihm lange nicht alles erzählt hatte. Alles würde sie niemandem erzählen. Manche Dinge waren zu schmerzhaft … zu schockierend, um sie mit anderen zu teilen. Sie konnte sich vorstellen, wie die Leute sie behandeln würden, wüssten sie die Wahrheit, und das mit gutem Grund. Nein, sie würde nie mit anderen über ihre Schuld und ihre Angst reden. Diese Last musste sie allein tragen.
Doch sie durfte sich nicht in der Vergangenheit verlieren, sie musste an die Gegenwart denken, an ihre Großtante.
Entschieden rief sie ihre Gedanken zur Ordnung. „Wenn Sie also jetzt, da Sie Ihre Antwort haben, die Projektleitung lieber einem anderen überlassen wollen …“
Sie wollte, dass er ablehnte, wurde Stefano klar. Dass er es vor wenigen Augenblicken noch selbst gewollt hatte, ignorierte er. „Sie wären nicht meine Wahl gewesen, aber ich habe auch nicht die Zeit, mir andere Bewerber anzusehen. Wenn Sie natürlich einen Rückzieher machen möchten …“ Er ließ das Angebot in der Luft hängen.
„Sie wissen doch bereits, dass ich das nicht kann“, erwiderte sie steif.
Stefano zuckte mit den Schultern. „Keiner von uns ist glücklich mit der Situation, aber aus unseren jeweils eigenen Gründen werden wir wohl das Beste daraus machen müssen.“
Giselle atmete schwer aus. Über die Vergangenheit zu reden, hatte ihr viel abverlangt, sie fühlte sich ausgelaugt und müde. Trotzdem musste sie noch etwas wissen. „Mein Auto …“ Ein Pochen meldete sich hinter ihren Schläfen, ihre Lippen waren trocken. Sie fuhr sich mit der Zungenspitze darüber.
Stefano verfolgte die verräterische Bewegung mit, als sie schluckte. Ihr aufgestecktes Haar ließ den Blick auf den schlanken Hals frei. Violette Schatten lagen unter ihren Augen, ihre Wangen waren bleich. Etwas in seinem Innern rührte sich, eine unbekannte Emotion, die das Bedürfnis weckte, Giselle in seine Arme zu ziehen und zu halten.
Zu halten? Warum?
Nun, er war ein Mann, oder nicht? Und mit ihrer Geste hatte sie seine Aufmerksamkeit auf ihren Mund gezogen, was natürlich die offensichtliche Wirkung auf seinen Körper hatte. Wenn er sich jetzt vorbeugen und mit seiner Zunge über ihre Lippen fahren würde, dann würde auch wieder Farbe und Wärme in ihre Wangen ziehen. Und dann würde der pochende Puls an ihrem
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