Giselles Geheimnis
und ängstlich sie sich fühlte. Sie nahm an, dass er jetzt von ihr eine Absage erwartete. Aber die konnte sie ihm nicht geben. Seine Anschuldigungen mochten falsch und ungerecht sein, aber Ärger war ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte.
Sie atmete tief durch. „Nun gut, dann sage ich es Ihnen eben.“
Damit hatte Stefano weder gerechnet, noch hatte er es gewollt.
Mit hocherhobenem Kopf lieferte Giselle ihre Erklärung ab. „Ich habe die Angebote ausgeschlagen, weil meine Großtante, die mich aufgezogen hat, Vollzeitpflege braucht. Ich kann ihr nicht zumuten, Yorkshire zu verlassen, da sie ihr ganzes Leben dort verbracht hat. Ich will für sie da sein und garantieren, dass ihr Lebensabend so schön und bequem wie nur möglich ist. Solange ich in London bleibe, kann ich sie regelmäßig besuchen. Würde ich im Ausland arbeiten, wäre das nicht möglich.“
Wider alles Erwarten fühlte Stefano so etwas wie Respekt in sich aufkeimen – und noch etwas anderes. „Ihre Großtante hat Sie aufgezogen? Was ist mit Ihren Eltern passiert?“ Die Frage entrang sich ihm nahezu unwillig.
„Sie starben, ich wurde früh Waise.“ Sie war stolz auf sich, wie ruhig ihre Stimme klang.
Stefano fluchte still. Das hatte er nun von seinem Drängen. Waise. Sosehr er sich auch wünschte, es wäre anders … das einzelne Wort rührte an eine tief verborgene Saite in ihm, an die Wurzel seiner persönlichen Geschichte. Er mochte ein Geständnis von Giselle Freeman erzwungen haben, aber die Kündigung würde er von ihr nicht bekommen.
„Wie alt waren Sie, als Sie Ihre Eltern verloren?“
Seine Stimme klang jetzt so leise … bei jedem anderen Mann hätte Giselle es für respektvolles Zögern gehalten. Doch dieser Mann hier besaß kein Mitgefühl für andere, dessen war Giselle sich sicher, schon gar nicht für jemanden, von dem er nicht viel hielt. Und das hatte er ihr ja längst gezeigt.
„Sieben.“ Nun, fast. Aber in jenem Jahr hatte keine Geburtstagsfeier stattgefunden, genau wie in dem Jahr zuvor auch nicht. Ein Bild zog vor ihrem geistigen Auge auf – zwei Särge, ein großer und ein kleiner. Der kleine überhäuft mit weißen Blumen. Und das Haus, in das sie mit ihrem schmerzgebeugten Vater zurückgekehrt war, angefüllt mit der quälenden Stille seiner Trauer und ihrer Schuld.
Sie hatte sich so danach gesehnt, ihr Vater würde sie in die Arme nehmen und ihr sagen, dass es nicht ihre Schuld sei. Doch er hatte sich von ihr abgewandt, und sie hatte gewusst, dass er ihr die Schuld gab. Mit keinem Wort hatten sie über das Geschehene gesprochen, stattdessen hatte er sie von der Tante mitnehmen lassen, weil er ihren Anblick nicht ertragen konnte.
Sieben! Eine Erinnerung stieg in Stefano auf – er in dem Alter … und seine Mutter, die lachend im Sonnenschein einen Schmutzfleck von seiner Wange wischte. Wie glücklich er damals gewesen war und wie sehr er sie geliebt hatte …
Ein bitterer Geschmack zog in seinen Mund, Abscheu für alles, was Kindern die Liebe ihrer Eltern entriss, was immer es auch sei. Er war achtzehn gewesen, hatte sich selbst als unabhängig und erwachsen erachtet, und er hatte kaum damit umgehen können.
Weitere Erinnerungen wollten auf Giselle einstürzen … Die anderen Kinder in der neuen Schule, die alle nett zu ihr waren, weil sie keine Eltern mehr hatte. Aber sie hatten ja die Wahrheit nicht gekannt … Ein kleiner gequälter Laut entfuhr ihr. Giselle wünschte sich verzweifelt, ihr Wagen wäre hier. Dann hätte sie einsteigen und davonfahren können, um dieser Demütigung endlich ein Ende zu setzen.
Stefano hörte den Laut und erkannte den Schmerz darin, ein Schmerz, den er selbst erfahren hatte. Die Worte kamen über seine Lippen, bevor er sie aufhalten konnte. „Ich verlor meine Eltern, als ich achtzehn war. In dem Alter hält man jeden für unsterblich.“
Was tat er hier nur?! Das war sicherlich nicht die Art Konversation, die er mit jedem führte, und ganz bestimmt nicht mit einer Frau, die er nicht besonders mochte. Es war dieses Wort – Waise –, das das ausgelöst hatte. Sieben Jahre alt und von der Großtante aufgezogen, die sie nun unterstützen musste. Das erklärte auch die unansehnliche Kleidung.
Sie mochte nicht sein Typ sein, aber es wäre eine Lüge, zu behaupten, man würde sich nicht nach ihr umdrehen. Diese Mischung aus kühler Überheblichkeit und unterdrückter Leidenschaft, die in ihren Augen aufflammte, bevor sie sie wieder unter Kontrolle brachte, würde
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