Giselles Geheimnis
Geld verdiente und sich Reisen hätte leisten können, hatte die Tante ins Seniorenheim ziehen müssen. So war wieder kein Geld für unnütze Ausgabe übrig gewesen.
Giselle schätzte Moira auf Anfang fünfzig, was sie überrascht hatte. Nach Emmas Bemerkungen über Stefanos Lebenswandel hätte sie eine üppige Schönheit als seine Assistentin erwartet, nicht eine Frau wie Moira, selbst wenn sie äußerst intelligent und elegant war. Überhaupt waren alle Frauen hier in der Firma sehr gepflegt gekleidet und machten Giselle die eigene bescheidene Garderobe umso bewusster. Nun, daran war nichts zu ändern.
Gerade vorgestern hatte sie ein Schreiben des Seniorenheims erhalten, das sie über die gestiegenen monatlichen Kosten informierte. Damit blieb praktisch nichts von der unerwarteten Gehaltserhöhung übrig. Natürlich gab es auch günstigere Heime, aber Giselle war entschlossen, ihrer Tante nur das Beste zu bieten.
Wenn sie sich in ihrem großen Büro umsah, musste sie zugeben, dass ihr der neue Arbeitsplatz viel besser gefiel – auch wenn sie lieber mit dem Teufel persönlich als mit Stefano Parenti gearbeitet hätte. Sie bezweifelte, dass ihre alten Kollegen sie vermissten. Bevor sie gegangen war, hatten die männlichen Kollegen sie deutlich spüren lassen, wie wenig es ihnen passte, dass ihr dieser Karriereschritt zugefallen war.
Natürlich hatte Giselle sich nicht anmerken lassen, dass sie liebend gern mit jedem von ihnen getauscht hätte. Nur waren es ausgerechnet Emmas wohlmeinende Worte zum Abschied gewesen, die noch immer schmerzhaft an ihrem Stolz nagten.
„Es ist gut, dass du ausgewählt wurdest“, hatte Emma ihr unter vier Augen gesagt. „Bei einer anderen hätte hier jede Frau bei der Vorstellung, mit einem so attraktiven und sexy Mann zusammenzuarbeiten, geschäumt. Aber bei dir wissen sie ja von vornherein, dass keine Gefahr besteht, er könnte je Interesse an dir entwickeln – nicht mit deiner Einstellung zu Männern und wie du allen die kalte Schulter zeigst. Das hat ein Mann wie Stefano nicht nötig, er kann schließlich jede haben, die er will.“
Albern, sich von Emmas Worten erniedrigt zu fühlen. Schließlich hatte Giselle selbst doch immer unmissverständlich klargemacht, dass sie kein Interesse am Flirten hatte. Männliche Aufmerksamkeit war das Letzte, was sie sich wünschte, und erst recht nicht von einem Mann wie Stefano Parenti. Warum erst recht nicht? Weil sie befürchtete, dass sie ihm erliegen könnte? Dass sie sich tatsächlich nach ihm sehnen könnte?
Solche Gedanken erschreckten sie. Nein, natürlich nicht. Sie lief keine Gefahr, sich nach Stefano Parenti zu sehnen. Und selbst falls es aufgrund einer fehlerhaften Einschätzung dazu kommen sollte, wusste sie doch schon jetzt, dass nichts aus einer solch lächerlichen Sehnsucht entstehen konnte. Etwa weil, wie Emma gesagt hatte, er niemals Interesse an ihr haben würde? Nein, sondern weil sie sein Interesse nicht wollte!
Kein Mann sollte sich für sie interessieren. Weil sie sich für keinen Mann interessieren durfte. In ihrem Leben durfte sie die Beziehungen nicht haben, die andere als völlig selbstverständlich ansahen. Sie durfte sich nicht verlieben, und vor allem durfte sie kein Kind haben. Nein, niemals.
Aber ob Stefano Parenti sie attraktiv fand oder nicht, sollte sie eigentlich nicht beschäftigen. Sie war nur hier, um die Aufgabe zu erledigen, für die sie bezahlt wurde. Das war es, worauf sie sich konzentrieren sollte.
Das Büro, das man ihr zugewiesen hatte, war perfekt geplant und genau auf ihre Arbeit zugeschnitten. Alle Materialien und Geräte, die sie brauchte, waren vorhanden, einschließlich eines großen Tisches, auf dem sie Pläne und Blaupausen ausbreiten konnte. Genau das hatte sie vorhin auch mit den Unterlagen gemacht, die man ihr zugeschickt hatte.
Unsicher sah Giselle zu dem Tisch hinüber. Sie hatte sie sich immer wieder angesehen, hatte sie wieder und wieder überprüft, um auch wirklich jeden Fehler auszuschließen. Dabei hatte sie nicht gemerkt, wie spät es geworden war. Jeder war schon gegangen, Moira wohl auch. Giselle hatte also die Möglichkeit verpasst, mit ihr zu reden und sie um Rat zu fragen.
Und ja, es gab definitiv eine Unregelmäßigkeit. Die nicht frostsicheren Terrakottafliesen für das Atriumhaus und das umliegende Areal, das zu den Swimmingpools führte, waren, wie von Stefano gewünscht, ausgetauscht worden. Doch erstens waren die Kosten für die anderen Fliesen wesentlich
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