Giselles Geheimnis
höher und zweitens von einem Lieferanten, dessen Name nicht auf der Liste der genehmigten Lieferanten zu finden war.
Als Gegenprüfung hatte sie sich von einigen anderen Firmen per E-Mail Kostenvoranschläge schicken lassen, und alle waren sie weit günstiger gewesen als der hier angegebene. Hinzu kam noch, dass die gewählten Fliesen kein Normmuster hatten. Sollte also jemals eine einzelne Fliese ausgetauscht werden müssen, so würde eine Spezialanfertigung nötig werden, zu natürlich horrenden Kosten. Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass diese Kalkulation von ihrem Kollegen und Gegenspieler Bill Jeffries stammte.
Sie schickte Bill eine E-Mail mit der vorsichtig formulierten Anfrage, ob es sich nicht vielleicht um einen Fehler handeln könnte, erhielt jedoch nur die Rückmeldung, dass er sich eine Woche freigenommen hatte. Da Stefano aber schon morgen früh wieder von seiner Geschäftsreise zurückkehrte, würde sie mit der Vorlage der Pläne und Kalkulationen unmöglich so lange warten können, bis Bill Jeffries wieder im Büro war.
Sie musste sich unbedingt mit jemandem beratschlagen, entschied sie. Durch die Glaswand des Zwischenstockwerks erblickte sie Moira, die gerade in ihre Jacke schlüpfte, offensichtlich auf dem Weg nach Hause. Sie war also doch noch nicht weg.
Es war ein warmer Apriltag gewesen, auch Giselle hatte ihre Jacke ausgezogen, um bequemer arbeiten zu können. Jetzt warf sie einen Blick auf die Jacke über der Stuhllehne, doch als sie sah, dass Moira sich zum Gehen anschickte, griff sie nur hastig die Unterlagen vom Tisch und beeilte sich, Moira noch zu erreichen.
„Nach allem, was Sie mir erzählt haben, finde ich, Sie sollten das besser mit Stefano besprechen“, lautete Moiras Entscheidung, nachdem Giselle ihren Bericht beendet hatte.
„Ich weiß, dass er erst morgen zurückkommt, und sein Terminkalender ist sicherlich übervoll. Könnten Sie nicht …“
Weiter kam Giselle nicht, Moira schüttelte schon den Kopf. „Er ist gerade angekommen und in sein Büro verschwunden. Warum gehen Sie nicht jetzt zu ihm und reden mit ihm?“
Giselles Schwung verpuffte. Damit hatte sie nun überhaupt nicht gerechnet.
Stefanos Assistentin bemerkte das unwillige Zögern. „Ich denke wirklich, Sie sollten gleich zu ihm gehen, Giselle. Das klingt mir doch nach einer ziemlich ernsten Angelegenheit. Stefano wird alles andere als begeistert sein, wenn Sie ihn nicht unverzüglich informieren.“
Moira schaute auf ihre Armbanduhr. „Tut mir leid, aber ich muss los. Ich habe zugesagt, heute Abend bei der Sitzung unseres Gartenvereins Protokoll zu führen, da sollte ich nicht zu spät kommen. Ich weiß, dass Stefano heute einiges erledigen will, er wird also noch eine Weile im Büro sein. Ich kann Ihnen versichern, er wird hören wollen, was Sie mir gerade erzählt haben. Dafür sind Sie ja schließlich hier.“
Jetzt war es also zu spät, sich noch zu wünschen, sie hätte Moira nie gefragt. Giselle atmete tief durch und steuerte Stefanos Büro an.
Wie alle anderen Büros auf dem Zwischenstock hatte auch Stefanos Zimmer eine Glaswand nach vorn ausgerichtet. Es war etwas größer als die anderen Räume und besaß scheinbar auch noch ein weiteres Anschlusszimmer, war aber mit den gleichen praktischen Büromöbeln und Gerätschaften eingerichtet wie ihr Arbeitsbereich.
Sie klopfte nur kurz an die halb offene Glastür und trat ein. Die tief stehende Abendsonne fiel durch die Fenster und blendete sie, sodass sie nicht gleich erkannte, dass sein Stuhl leer war. Stefano war gar nicht hier, auch wenn sein Laptop aufgeklappt auf dem Schreibtisch stand und sein Jackett über der Stuhllehne hing.
Wieso konnten eigentlich nur sehr männliche Männer dieses helle Beige tragen und damit aussehen, als wären sie gerade der Armani-Anzeige eines Modemagazins entstiegen? fragte Giselle sich zerstreut. Sie bemühte sich verzweifelt, Stefano nicht in dieser Rolle zu sehen – nur um von ihrer verräterischen Fantasie genarrt zu werden, die ihr ein nahezu realistisches Bild von Stefano als Model für Männerunterwäsche vorgaukelte.
Im Kampf mit den eigenen Gedanken ließ Giselle vor Schreck fast die Unterlagen fallen, als die Verbindungstür aufgezogen wurde und Stefano über die Schwelle kam.
„Moira, wenn Sie mir einen Kaffee und ein Sandwich besorgen könnten, während ich schnell dusche, gehört Ihnen meine ewige Dankbarkeit.“ Sein lockerer Tonfall änderte sich abrupt, sobald er gewahr wurde, dass
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