Giselles Geheimnis
Dinge wurden ihr klar: Stefano hatte ihre Entdeckung also ernst genug genommen, um sie an die Seniorpartner weiterzuleiten und Aufklärung zu verlangen. Das hieß, sie hatte danebengelegen mit ihrer Vermutung, dass es ein Trick von ihm gewesen sein könnte. Damit war die Tür für ihre Flucht aus dem Parenti-Unternehmen zugeschlagen worden.
Eine Stunde später traf Giselle an der Kaffeemaschine eine von den anderen jungen Frauen. Freundlich lächelnd erkundigte sich die Kollegin, ob sie sich inzwischen eingelebt habe. Giselle konnte nicht anders, sie musste eingestehen, dass Aimee wirklich schick aussah. Deren schwarzes Kostüm schillerte nicht abgenutzt vom vielen Tragen – aber Giselle bezweifelte auch, dass es überhaupt je in die Nähe einer Waschmaschine gekommen war. Dafür wirkte es viel zu teuer und elegant.
„Ist Stefano nicht einfach hinreißend?“, plauderte Aimee unbeschwert, während sie sich ihren Kaffee aus der Maschine zog und Giselle neben ihr wartete. „Wirklich schade, dass er so ganz und gar gegen feste Beziehungen ist. Ich glaube, wir alle geben uns die größte Mühe, die zukünftige Mrs Stefano Parenti zu werden. Leider bestehen da überhaupt keine Chancen. Schließlich hat er oft genug öffentlich betont, dass er ledig bleiben und keine Familie haben will. Übrigens, ich habe Ende des Monats Geburtstag … Sie sind herzlich eingeladen, nach Büroschluss auf einen Drink mitzukommen, wenn ich eine Runde ausgebe.“
Die andere schien wirklich nett zu sein, und Giselle hätte die Einladung gern angenommen, wenn …
Wenn was? Wenn sie es sich leisten könnte, ebenso schick auszusehen?
Etwas von dem Kaffee, den sie sich gerade eingeschenkt hatte, schwappte auf die Anrichte, weil ihre Hand verräterisch zu zittern begann. Es war ja nicht nur die Kleidung, die sie von den Kolleginnen unterschied, rief sie sich in Erinnerung. Da war auch ihre komplett andere Einstellung zu Stefano.
Vermutlich will er sich nicht binden, weil er sich nicht vorstellen kann, dass irgendeine Frau gut genug für ihn ist, dachte sie zynisch auf dem Weg zurück zu ihrem Büro. Die anderen schienen ihn ja regelrecht anzuhimmeln, während sie … Sie verabscheute ihn.
Als es drei Uhr wurde, hatte Giselle ihre Entscheidung getroffen, was sie hinsichtlich der von Stefano gestellten „Arbeitskleidung“ tun würde – oder besser, die Entscheidung war ihr nach Emmas Anruf mehr oder weniger abgenommen worden.
Sosehr es sie auch verärgerte und so ungern sie es tat, sie würde sich Stefanos Diktat beugen müssen.
Als sie zu Moira ging, um es ihr mitzuteilen, konnte sie der Älteren nicht in die Augen schauen, wünschte sie sich doch nichts mehr, als finanziell unabhängig genug zu sein, um sowohl die Projektleitung als auch die Stefanos Meinung nach dafür notwendige Garderobe ablehnen zu können. Aber das konnte sie eben nicht, nicht, solange das Wohlergehen ihrer Großtante von ihr abhing. Sie schuldete Tante Maude so viel, und nichts, nicht einmal ihr Stolz, durfte ihr bei der Rückzahlung ihrer Schulden an Liebe und Loyalität im Weg stehen.
Ohne ihre Tante wäre sie in einem Heim gelandet – oder schlimmer noch. Giselle fühlte die alten Ängste wieder aufsteigen, und es war allein Stefanos Schuld, dass längst begrabene Gefühle wiederauferstanden, um sie zu quälen.
Giselle spürte Moiras Mitleid in der Stille um sich herum.
„Es wird Ihre Arbeit um vieles erleichtern, wenn Sie akzeptieren, dass Stefanos Entscheidungen hier Gesetz sind“, brach Moira das Schweigen. „Er mag es ganz und gar nicht, wenn seine Entscheidungen angezweifelt werden.“
Eine halbe Stunde später, als Giselle auf die Straße trat, wurde sie zufällig Zeuge, wie ein junges Paar direkt vor ihr einen zärtlichen Kuss tauschte, und das Herz stockte ihr in der Brust.
Gefährliche Empfindungen brandeten in ihr auf, und sie wurde von tiefem Bedauern erfüllt. Sie würde niemals so geküsst werden, für sie würde es nie eine Zeit geben, da ein Mann sie so liebevoll und beschützend in den Armen halten würde.
Dieses Gefühl hallte noch immer in ihr nach, als sie eine gute Stunde später mit einer Tasse Kaffee in der Hand in den privaten Ankleideräumen von Harvey Nichols saß und darauf wartete, dass die Stilberaterin und ihre Assistentinnen mit einer weiteren Kollektion für sie zum Anprobieren zurückkamen.
Warum betrog ihr Körper sie jetzt nach all den Jahren, in denen sie immer überzeugt gewesen war, dass ihr nichts entging,
Weitere Kostenlose Bücher