Giselles Geheimnis
gezeigt, dass nichts und niemand ewig existierte. Fühlte Giselle ebenso? Würde sie verstehen, was niemand sonst verstand? Dass er es nicht riskieren konnte, sich noch einmal einem solchen Schmerz auszusetzen, weil er es nicht überleben würde? Wenn er es ihr erzählte, würde sie dann …
Leise fluchend rief Stefano seine Gedanken harsch zur Ordnung. Bisher hatte er mit niemandem über die Gefühle gesprochen, die der Verlust der Eltern in ihm ausgelöst hatte, und er plante auch nicht, das je zu tun. Es war sicherer so, konnte es so auch weder Betrug noch Enttäuschung geben, die unweigerlich irgendwann kommen würden.
Seine Gedanken kehrten zu seinem Cousin zurück. Er wusste schon jetzt, dass Natasha Aldo früher oder später betrügen würde – wahrscheinlich früher. Aber garantiert nicht mit ihm. Und ja, mit einer Frau an seiner Seite würde Natasha Distanz wahren.
Sein Blick wanderte wieder zu Giselle. Mit der Schnelligkeit und Klarheit eines Mannes, der gewohnt war, Entscheidungen zu treffen, ging Stefano ins Büro seiner Assistentin.
„Moira, ich muss nach Arezzio fliegen. Arrangieren Sie bitte alles für einen Privatjet.“
„Für wann?“
„Schnellstmöglich.“
„Sie haben noch das Lunchmeeting mit Lord Richards in einer halben Stunde“, erinnerte Moira ihn.
„Ich weiß“, sagte er, und dann informierte er sie: „Ich werde Giselle mitnehmen. So kann ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und auf Kovoca eine Ortsbesichtigung machen. Es gibt da ein paar Änderungen in den Plänen, die ich mir persönlich ansehen will.“
Moira nickte. „Werden Sie länger auf der Insel bleiben? Dann sage ich der Haushälterin Bescheid, dass sie die Villa vorbereiten soll.“
„Ja, gut.“ Es war zu spät, um jetzt noch seine Meinung zu ändern oder auf die innere Stimme zu hören, die ihn unablässig fragte, was er vorhatte und warum seine Gedanken sich ständig um Giselle drehten. Na und, dann war es eben so. Es hatte nichts zu bedeuten.
Keine Viertelstunde später ließ Moira ihn wissen, dass die Privatmaschine um sechs Uhr auf dem Luton Airport abflugbereit sei.
Stefano sah auf seine Armbanduhr. „Ich sollte besser los. Ich will Lord Richards nicht warten lassen. Sagen Sie Giselle, sie soll sich den Rest des Tages freinehmen. Ich hole sie um halb vier bei sich zu Hause ab. Das lässt uns genügend Zeit, um pünktlich in Luton anzukommen.“
„Wie lange werden Sie auf Reisen sein?“, fragte Moira.
„Nicht länger als fünf Tage, wahrscheinlich weniger. Das kann ich erst genauer sagen, wenn ich mit Aldo gesprochen habe und im Bilde bin, was eigentlich los ist.“
Giselles Herz hämmerte wild gegen ihre Rippen. Noch immer hatte sie nicht verdaut, dass sie Stefano zu einer Ortsbesichtigung auf Kovoca begleiten sollte. Ablehnen konnte sie nicht, gehörte es doch definitiv zu ihrem Arbeitsbereich. Eine Weigerung wäre nicht nur höchst unprofessionell, es würde vielleicht auch den Verdacht in Stefano wecken, dass … Ja, welchen Verdacht? Dass sie Angst davor hatte, mit ihm allein zu sein, wegen der Gefühle, die er mit seinem Kuss in ihr geweckt hatte? In eine solche Situation würde sie sich nicht bringen. Nein, sie würde sich darauf konzentrieren, stets sachlich und geschäftsmäßig zu bleiben.
Sie schaute auf die Kleider, die sie auf ihrem Bett ausgebreitet hatte. Ortsbesichtigungen verlangten immer praktische Kleidung, also Jeans. Und da sie aus den Unterlagen der Landvermesser wusste, wie felsig und uneben das Gelände auf der Insel an manchen Stellen war, würde sie auch festes Schuhwerk brauchen. Von den Informationen aus dem Internet wusste sie, dass es auf der Insel um diese Jahreszeit wesentlich wärmer war als in London.
Moira hatte sie jedoch vorgewarnt, dass Stefano plante, die Inselbesichtigung mit einem Besuch bei seinem Cousin, dem Großherzog von Arezzio, zu kombinieren. Eine Familienangelegenheit, hatte die Assistentin es vage genannt.
Giselle schaute auf ihre Armbanduhr. Um halb vier wurde sie abgeholt, jetzt war es drei. Sie sollte sich besser beeilen und ihren kleinen Koffer packen – den einzigen, den sie besaß und den sie auch immer benutzte, wenn sie ihre Tante besuchen fuhr.
Sie war fast fertig mit Packen, als es an der Tür klingelte. Vor Schreck fiel ihr die Unterwäsche aus der Hand, die sie noch hatte verstauen wollen. Warum nur war sie so nervös? Oder war es gar keine Nervosität, sondern Vorfreude?
Nein, natürlich nicht! Warum sollte sie sich
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