GK0148 - Der Voodoo-Mörder
betrunken«, flüsterte der Totengräber.
Mit einer abgehackt wirkenden Bewegung wischte er sich über die Augen, als könne er den Anblick dadurch verscheuchen.
Doch das Bild blieb.
Die Tote war drei Schritte vor Henry Bolz stehengeblieben. Sie fixierte den Totengräber aus starren Augen. Nicht ein Muskel regte sich in ihrem Gesicht, und kein Atem drang aus dem halb geöffneten Mund.
Sie stand dort wie eine Statue, eingehüllt in das schmutzige zerrissene Leichenhemd und umweht von wabernden, grau-weißen Nebelschleiern.
Henry Bolz zitterte vor Angst. Seine Zähne schlugen aufeinander. Er konnte einfach nicht begreifen, was seine Augen sahen.
Das Geschehene war zu ungeheuerlich, widersprach jeder Logik.
Der Totengräber konnte später nicht mehr sagen, welche Gedanken ihm in diesen Augenblicken im Kopf herumschwirrten – er wußte nur, daß er nicht einmal fähig war, wegzulaufen.
»Aus dem Weg!« befahl die Untote.
Henry Bolz hörte die Worte zwar, verstand sie aber nicht.
Als der Totengräber nicht gehorchte, ging die lebende Leiche vor und schlug zu.
Die flache Hand knallte dem Totengräber vor die Brust. Der Schlag war so wuchtig, daß Bolz wie ein Stock umkippte. Die Untote mußte ungeheure Kräfte besitzen.
Der Totengräber spürte den Kies unter seinen Rippen und erwartete, daß die Spukgestalt seinem Leben ein Ende setzen würde. Im Geiste sah er schon die gekrümmten Finger an seine Kehle fahren – doch nichts dergleichen geschah.
Henry Bolz wälzte sich auf die Seite und öffnete die Augen.
Die Tote marschierte bereits den Weg hinunter, dem Ausgang zu, und wurde von den Nebelschleiern verschluckt.
Minutenlang lag der Totengräber regungslos auf dem Boden.
Er konnte das Erlebte kaum verkraften. Dann aber rappelte er sich auf und lief mit unsicheren Schritten dem neuen Teil des Friedhofes entgegen, dort, wo das Grab der Leiche sein mußte.
Henry Bolz’ Atem ging keuchend, seine Schuhsohlen hämmerten über die Planken.
Er sah zwei offene Gräber!
In dem einen hatte Nelly Parker gelegen und in dem anderen – es lag einige Meter weiter – Jane Archer, die Person, die ihm begegnet war.
Es war ein makabres Bild. Die Erde über den Gräbern war verrutscht. Kränze und Blumen langen durcheinander, die beiden Kreuze waren umgekippt.
Jetzt spürte Henry Bolz zum erstenmal in seinem Leben, was Angst war. Er hatte nie Angst vor dem Tod oder dem Friedhof gehabt, doch nun schoß dieses gräßliche Gefühl wie ein Stromstoß durch seinen Körper.
Sein Blick glitt über die Reihe der Gräber.
Sie lagen still und friedlich.
Henry Bolz rechnete jeden Moment damit, daß sich irgendwo auf einem Grab die Erde bewegen würde – und…
Der Totengräber dachte den Gedanken nicht mehr zu Ende.
Auf dem Absatz machte er kehrt und rannte, wie von Furien gehetzt, los.
Am liebsten hätte er seine Not hinausgeschrien, doch er beherrschte sich im letzten Augenblick.
Die Strecke erschien ihm auf einmal unendlich lang. Der Weg vor der Leichenhalle war nicht asphaltiert und durch den Nebel glitschig geworden. Um ein Haar wäre Henry Bolz gefallen.
Er warf sich gegen die stabile Haustür und legte seinen Zeigefinger auf den Klingelknopf.
Die Glocke schrillte durch das ganze Haus.
Schon wenig später wurde das Fenster zum Schlafzimmer aufgerissen, und Bolz’ Frau beugte sich heraus.
»Mach auf!« brüllte der Totengräber abgehackt, dessen Lungen wie Blasebälge arbeiteten.
Die Frau stellte keine Fragen. Wenn ihr Mann so reagierte, mußte etwas passiert sein.
Sekunden später war die Tür offen.
Henry Bolz blieb auf der Schwelle zum Livingroom stehen. Er lachte schaurig. »Was passiert ist, willst du wissen?« schrie er.
»Zwei Leichen sind aus ihren Gräbern gestiegen. Zwei Leichen, mehr nicht.« Wieder lachte er. »Ich glaube, ich werde wahnsinnig.« Er schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Ich habe eine lebende Leiche gesehen.«
Henry Bolz torkelte in den Livingroom und ließ sich in einen Sessel fallen. Der Mund des Totengräbers war halb geöffnet, und kichernde Laute drangen über seine Lippen.
Der Frau war der Schreck in die Knochen gefahren. Und doch tat sie in diesem Augenblick das Richtige.
Sie rannte zum Telefon und rief die Polizei an.
***
John Sinclair saß schon um sieben Uhr in seinem Büro und trank Automatenkaffee.
Der Oberinspektor hatte schlecht geschlafen. Die Ereignisse der vergangenen Nacht hatten ihm einfach keine Ruhe gelassen.
Er fühlte sich wie jemand, der
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