GK0200 - Das Todeskarussell
greifen.
Er wollte die magischen Kräfte des Ringes beschwören, wußte aber auch, daß dies zu einer Apokalypse des Grauens führen konnte. Am Abend des fünfzehnten Februar – die Sonne war längst untergegangen – befahl Chandra zwei junge Männer aus seiner Sippe zu sich. Es waren Bela und Marco, beide siebzehn Jahre alt, mit schlanken, sehnigen Körpern und dem heißen Blut der Sippe in ihren Adern.
Sie verneigten sich vor Chandra, der auf einem hochlehnigen Stuhl saß und seine Arme auf die gepolsterten Lehnen gelegt hatte. Es war eisigkalt in Chandras Behausung. Der Wind konnte ungehindert durch die Ritzen der Bretterbude pfeifen, und der Atem der Männer tanzte als eine nie abreißende Wolke vor den Lippen.
Auf einem kleinen Tisch stand eine Öllampe. Als die beiden jungen Zigeuner eintraten, drehte Chandra die Flamme hoch. Lichtreflexe zuckten über die Gesichter der Ankömmlinge und malten bizarre Schatten an die mit roter Farbe gestrichenen Wände. Chandra sah die beiden Jungen an. Sie trugen nur dünne Kleidung. Stoffetzen, die sie sich um den Körper gewickelt hatten und die kaum vor der Kälte schützten. Trotzdem hielten sie sich aufrecht. Sie wollten dem Oberhaupt der Sippe gegenüber keine Schwäche zeigen. Chandra griff unter den Stuhl und holte eine Flasche hervor. Sie war noch verschlossen, doch Chandra zog den Korken mit seinen kräftigen Zähnen heraus.
»Trink«, sagte er und warf Marco die Flasche zu.
Der fing sie geschickt auf und nahm einen langen Schluck. Es war Selbstgebrannter Schnaps. Ein Feuerstrom schien Marcos Kehle hinunterzurinnen und sich dann in seinem Magen auszubreiten. Doch der junge Zigeuner verzog nicht einmal das Gesicht. Gelassen gab er die Flasche an Bela weiter, der ebenfalls trank und dem auch keine Regung anzusehen war.
Zuletzt nahm Chandra einen Schluck. Er trank die Flasche bis zum letzten Tropfen leer und warf sie dann weg. »Es war die letzte«, sagte er, wischte sich über den Mund und fragte: »Ihr wißt, was das zu bedeuten hat?«
Die beiden Jungen nickten. Dieses Austrinken der Flasche war symbolisch gemeint, denn nun besaßen die Zigeuner nichts mehr. Sie mußten hungern. Sie hatten auch kaum noch Geld, aber im Dorf hätte ihnen sowieso niemand etwas verkauft. Sie waren Ausgestoßene und wurden behandelt wie Pestkranke.
»Aber noch sind wir nicht verloren«, sagte Chandra, und seine Augen blitzten bei diesen Worten. »Noch habe ich den magischen Ring meiner Väter. Man hat mich immer gewarnt, ihn zu benutzen, denn seine Kräfte sind schrecklich. Aber heute bleibt mir keine andere Wahl. Ich werde ihn beschwören.«
Chandra machte eine kleine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. Die beiden jungen Zigeuner hatten ihre Blicke erhoben und sahen Chandra voller Vertrauen an. Ja, sie glaubten noch an ihn. Sie waren davon überzeugt, daß er sie retten würde.
Chandra beugte sich vor. Seine starken, knochigen Finger umspannten dabei die hölzernen Sessellehnen. Hart und weiß stachen die Knöchel hervor. Auf der Haut zitterten kleine schwarze Härchen. »Hört zu!« sagte er mit leiser zischender Stimme. »Ich brauche für die Beschwörung einige Sachen, die ihr mir besorgen müßt. Blut ist das wichtigste. Frisches, warmes Blut.«
Erschrecken breitete sich auf den Gesichtern der beiden jungen Leute aus.
Marco faßte sich ein Herz und fragte: »Menschenblut?«
»Nein!« Chandra schüttelte wild den Kopf, so daß seine Haare flogen. »Kein Menschenblut, sondern das Blut eines frischen Huhns.«
»Ein Huhn?« echote Marco. »Aber – wie – wie sollen wir es bekommen?«
»Stehlen, du Tölpel. Es laufen doch genug Hühner herum. Fast jeder Dörfler hier besitzt einen Stall. Brecht ein, und holt mir, was ich verlangt habe.«
»Aber wenn sie uns erwischen?« warf Bela mit zitternder Stimme ein.
»Zigeuner erwischt man nicht«, erwiderte Chandra hart. »Oder ihr seid es nicht wert, Mitglieder meiner Sippe zu sein.«
»Ja, Chandra, wir werden deinen Auftrag ausführen«, erwiderten die beiden Jungen gleichzeitig.
Chandra lächelte. »Dann ist es gut.« Er streckte den Arm aus und wies zur Tür. »Geht jetzt. Und kommt nicht ohne das Huhn zurück. Meine Strafe wird sonst furchtbar sein.«
Marco und Bela verneigten sich und verließen die Hütte. Chandra aber lehnte sich zufrieden in seinem Stuhl zurück. Die Weichen der Rache waren gestellt…
***
Marco und Bela stapften durch den knietiefen Schnee. Es war sehr kalt geworden, und obwohl schon die
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