GK083 - Der Henker aus dem Totenreich
leere Gehsteige.
Vorsichtig ließ er das rote Seil über den Dachrand nach unten baumeln.
Er schaute auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass er noch genügend Zeit hatte. Er brauchte sich nicht zu beeilen.
Es war besser, so langsam wie möglich zu arbeiten. Je mehr Zeit man hatte, desto gewissenhafter konnte man vorgehen.
Eines der Fenster war erhellt. Es war das Schlafzimmerfenster.
Kirsten Wolf schlief noch nicht. Pech für sie. Wenn sie bereits geschlafen hätte, wäre sie aus diesem Schlaf eben nicht mehr aufgewacht. So aber würde sie mit aller Deutlichkeit mitbekommen, was mit ihr geschah.
***
Das Nachthemd, das Kirsten trug, war durchsichtig wie Glas.
Sie saß im Bett. Die Decke lag auf ihrem Schoß. Und auf der Decke lag ein dickes Buch, in dem sie die Hälfte erreicht hatte. Ein Lesezeichen aus bunter Seide lag neben dem Buch.
Kirsten las bis zum nächsten Abschnitt. Dann legte sie das Lesezeichen zwischen die Seiten und klappte das Buch gähnend zu.
Nachdem sie den schweren Wälzer auf den Nachttisch gelegt hatte, schlug sie die Decke zurück. Sie wollte noch einen Apfel haben. Deshalb stand sie auf und ging aus dem Schlafzimmer. Ihr Nachthemd war kaum vorhanden. Wäre es am Dekolleté und knapp über den wohlgerundeten Knien nicht mit rosa Spitzen besetzt gewesen, dann hätte man es wohl gar nicht wahrgenommen. Klar und deutlich zeichnete sich ihre bemerkenswerte Figur unter dem zarten Gebilde ab.
Sie lief in die Küche, nahm einen rotbackigen Apfel aus der Obstschüssel und wandte sich wieder um.
Da vernahm sie ein schabendes Geräusch.
Sie blieb unwillkürlich stehen und lauschte angestrengt.
Das Geräusch wiederholte sich aber nicht mehr. Kirsten hob die Hand und biss herzhaft in den großen, saftigen Apfel. Wenn sie nicht gekaut hätte, hätte sie das neuerliche Kratzen gehört. Doch der Apfel knirschte zwischen ihren Zähnen und übertönte damit das verräterische Geräusch, das irgendwo in der Nähe des Wohnzimmerfensters entstanden war.
Kirsten kehrte ins Schlafzimmer zurück.
An das gehörte Geräusch verschwendete sie keinen weiteren Gedanken mehr.
***
Der Mann baumelte am roten Nylonseil. Kraftvoll umklammerten seine sehnigen Hände die Knoten, die ein Abgleiten verhinderten.
Langsam pendelte der Mann tiefer. Als er das Wohnzimmerfenster erreicht hatte, trat er auf das Sims.
Mit angehaltenem Atem lauschte nun auch der Mann. Unten verließ jemand das Haus, ohne zu ihm hochzuschauen.
Unten setzte sich die Person in einen alten Ford. Der Anlasser mahlte und eierte. Dann kam der Motor. Gleich darauf starb er aber wieder ab. Ein Fluch war zu hören. Dann wieder der Anlasser. Und dann lief der Motor. Unrund zwar, aber er lief. Und Augenblicke später setzte sich der klapprige Ford ächzend in Bewegung. Er nahm, so schnell er konnte, Fahrt auf, jaulte mit den abgefahrenen Reifen um die nächste Ecke und war bald nicht mehr zu hören.
Nun widmete sich der Mann wieder konzentriert seiner Aufgabe.
Er öffnete das Stoffsäckchen, das er um den Hals hängen hatte.
Behutsam nahm er ein schlankes Metallstück heraus. Das Mondlicht tanzte in hellen Reflexen darauf.
Er schob es zwischen die beiden Fensterflügel und übte dann geringfügigen Druck darauf aus. Es knackte leise. Dann ließ sich das Fenster mühelos öffnen.
Langsam glitt der Mann in die Wohnung.
Er war der personifizierte Tod.
***
Kirsten legte das Kerngehäuse des Apfels auf den Kunststoffeinband des dicken Buches. Sie knipste die Nachttischlampe aus, drehte sich zur Seite, zog die Decke hoch und bereitete sich auf den Schlaf vor. Dazu gehörte, dass sie sich restlos entspannte. Anfangs fiel ihr das schwer, denn sie musste an ihre Ehe denken, mit der sie so kläglich Schiffbruch erlitten hatte. Zwischendurch dachte sie an das, was sie soeben gelesen hatte. Dann tauchten Bilder von ihrer Hochzeit auf. Sie sah sich als glückliche, strahlende Braut. Wie lange war das schon her. Eineinhalb Jahre. Eigentlich ist das keine Zeit für eine Ehe. Sie suchte nach einer Schuld für das, was gekommen war, und sie fand die Schuld nicht bei sich, sondern bei Herrmann. Eigentlich, nur bei ihm. Sie hatte ihm eine liebende, sorgenvolle Gattin sein wollen. Sie hatte nichts unversucht gelassen, um ihm die Ehe so angenehm wie möglich zu machen. Es hatte nicht geklappt. Hatte vielleicht sie versagt?
Seltsam kühl wurde es plötzlich im Schlafzimmer. So, als wäre irgendwo ein Fenster offen.
Kirsten versuchte sich einzureden, dass
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