GK083 - Der Henker aus dem Totenreich
wird, weil diese Figur von dem unvergesslichen Manolete in ausgesprochener Vollkommenheit beherrscht wurde. Kerzengerader Körper, nicht das geringste Zögern, allein Rhythmus und Folgerichtigkeit.
»Ole!«, brüllten Tausende von Kehlen, als der Stier an dem Matador vorbeidonnerte.
Nun schwang der Matador die Muleta.
Ein solches Manöver erregt bei den Zuschauern stets Aufsehen und Bewunderung.
Das Publikum ließ sich auch diesmal von den Mutbezeugungen des schlanken Matadors restlos begeistern.
Es war eine großartige Corrida. Lorenzo Caldes erlebte sie mit. An seiner Seite saß Karen Webster, eine üppige Engländerin, die er vor zwei Tagen auf der Straße angesprochen hatte.
Sie bebte. Er hatte seinen Arm um ihre zitternden Schultern gelegt. »Ole!«, brüllte er.
»Ole!«, schrie auch das Mädchen aufgeregt. Sie war blond, hatte graue Augen, eine Stupsnase mit vielen Sommersprossen und volle Wangen. Sie war kein besonders schönes Mädchen. Aber das störte Lorenzo Caldes nicht. Er war nicht wählerisch. Sie hatte Geld. Das war für ihn die Hauptsache. Da er im Moment ziemlich knapp bei Kasse war, war ihm schon mit ein paar Peseten geholfen, und die machte Karen Webster gern für ihn locker. Aber sie gab sie ihm nicht umsonst. Er musste sich das Geld hart verdienen. Und zwar in Karens Schlafzimmer.
»Ole!«, schrie Lorenzo Caldes wieder. »Na, was sagst du zu diesem Burschen? Ist er nicht tollkühn?«
»Er kämpft hinreißend!«, rief das Mädchen aus.
»Er ist der beste Matador, den wir zur Zeit haben.«
»Hast du das auch schon mal versucht, Lorenzo?«
Er grinste.
»Ich spiele lieber bei dir den Stier.« Sie lachten beide.
Aber plötzlich wurde Lorenzo todernst. Von einer Sekunde zur anderen. Die pummelige Engländerin konnte diese Wandlung nicht verstehen.
»Lorenzo!«, sagte sie irritiert. »Was ist mit dir?«
Er schaute nicht mehr dem Kampf zu.
Er schien an allem, was ihn umgab, jegliches Interesse verloren zu haben.
»Lorenzo! So sag doch etwas! Was ist denn nur mit dir los?«, zeterte die Blondine. »Was hast du? Lorenzo! Warum antwortest du nicht!«
Caldes’ Gesicht war leichenblass geworden. Seine Lippen bebten. Seine Augen waren von einem namenlosen Entsetzen geweitet.
»Lorenzo!«, rief Karen. Caldes’ Entsetzen griff auf sie über. Sie fröstelte.
»O Gott!«, stöhnte Caldes.
»Was ist, Lorenzo?«
»O Gott!«
»Lorenzo!«
»Die Garrotte!«
»Die was?«
»Die Garrotte!«, stöhnte Lorenzo Caldes.
»Wo?«
»Da! Siehst du sie nicht?«
»Nein, Lorenzo. Wo ist sie?«
»Vor mir. Hier vor mir! Wieso kannst du sie nicht sehen?«
»Dieses Ding aus Eisen?«
»Ja.«
»Das ist eine Garrotte?«
»Ja!«
»Wieso hängt sie in der Luft?«
»Sie hängt nicht in der Luft!«, keuchte Lorenzo Caldes entsetzt. »Dahinter steht der Henker.«
»Ich kann niemanden sehen, Lorenzo!«
»Trotzdem steht der Henker hinter der Garrotte!«
»Sag nicht so etwas Schreckliches, Lorenzo!«, kreischte das Mädchen entsetzt. Da rief eine dumpfe, grollende Stimme Caldes’ Namen.
Die Leute, die um Caldes herumsaßen, erschraken zutiefst. Sie wichen vor Caldes zurück. Auch Karen Webster ließ von ihm ab.
»Die Garrotte!«, rief sie mit schriller Stimme. »Sie kommt auf dich zu Lorenzo! Was ist das für ein schrecklicher Spuk! Was will diese unheimliche Stimme von dir, Lorenzo?«
Die Stimme rief: »Die Stunde der Buße ist da, Lorenzo Caldes! Du wirst nun den Mord an Kirsten Wolf sühnen!«
Die Leute zweifelten an ihrem Verstand. Was sie sahen, überstieg ihr geistiges Fassungsvermögen.
Sie sahen die tödliche Garrotte, die sich um Caldes’ Hals gelegt hatte.
Sie sahen, wie die Würgeschraube von einer unsichtbaren Hand zugedreht wurde.
Der Stierkampf wurde abgebrochen. Das Publikum verfolgte mit Schaudern den Todeskampf von Kirsten Wolfs Mörder.
Lorenzo Caldes wehrte sich verzweifelt gegen das Ende.
Ebenso vergeblich hatten sich Ceclina Palamos, Angel Carrona, Manuel Ruente und Pierre Mathieu zur Wehr gesetzt.
Der Henker kannte keine Gnade. Und er verstand sein Handwerk. Wer seine Garrotte um den Hals hatte, der war unweigerlich verloren.
Als Lorenzo Caldes neben Karen Webster tot zusammenbrach, stieß das Mädchen einen irren Schrei aus. Dann fiel sie in Ohnmacht. Was sie erlebt hatte, war einfach zu viel für ihre schwachen Nerven.
***
Ich hatte eigentlich vorgehabt, Herrmann Wolf noch am Vormittag aufzusuchen. Aber dann war Capitano Delgado zu Besuch gekommen, Vicky hatte mich
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