GK317 - Das zweite Leben der Marsha C.
vergangenen Tagen - mit Lack aufgesprüht - prangten daran. Heute hatten sie ihre Aktualität verloren.
Gibbon wußte, daß er sein Ziel erreicht hatte.
Er brauchte nicht mehr weiterzufahren, mußte sich nur noch in dieses alte Lagerhaus begeben. Dann würde er Marsha Caan begegnen.
Er spürte ihre Nähe mit jeder Faser seines Körpers.
Sie war auf Mord programmiert.
Würde es ihr gelingen, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen? Bis jetzt hatte sie alles erreicht, was sie wollte. Niemand hatte ihrem grausamen Treiben Einhalt gebieten können.
Glenn Gibbon hob die rechte Hand mit dem magischen Ring.
Ob er den Racheengel damit in die Knie zwingen und Frank Esslin befreien konnte? Er mußte es versuchen. Er hatte keine andere Wahl.
Bevor Gibbon ausstieg, atmete er kräftig durch. Sein Körper vibrierte. Die Angst vor dem Versagen saß ihm im Nacken.
Du wirst es schaffen! redete er sich ein. Du wirst es schaffen, weil du es schaffen mußt!
Er klappte den Wagenschlag zu. Vom East River wehte eine kühle Brise herüber. Sie roch nach Tang und Teer.
Ende oder neuer Beginn? Was würde diese nächtliche Stunde bringen?
Glenn Gibbon setzte sich in Bewegung. Er schielte zum Mond hinauf und bat den Himmel, er möge ihm beistehen, obwohl er seine Unterstützung nicht verdiente.
Das Lagerhaustor war gerade so weit offen, daß Glenn Gibbon ungehindert eintreten konnte. Sobald er seinen Fuß in den alten Schuppen gesetzt hatte, blickte er sich mißtrauisch um.
Aus welcher Richtung würde Marsha Caan ihn angreifen? Wie würde sie es tun? Und wann?
Nichts regte sich in der Dunkelheit. Glenn Gibbon war unheimlich zumute. Er hörte sein Herz überlaut schlagen.
Vielleicht war da auch ein geisterhaftes Knistern in der Finsternis. Er wußte es nicht genau. Vorsichtig setzte er seine nächsten Schritte. Ihm war, als würde er sich durch eine fremde Welt bewegen.
Ein schabendes Geräusch ließ ihn stutzen.
Er blieb sofort stehen und blickte in die Richtung, aus der das Geräusch an sein Ohr gedrungen war.
Da!
Er hörte es wieder. Mit fest zusammengepreßten Kiefern setzte er seinen Weg fort. Seine Augen versuchten die Finsternis zu durchdringen.
Allmählich gelang es ihnen.
Abermals blieb Glenn Gibbon stehen. Er sah jemanden auf dem Boden liegen. Einen Menschen. Einen Mann.
Frank Esslin war das!
»Frank!« rief Glenn Gibbon aufgeregt. Er rannte auf den Arzt zu. »Frank!« Er erreichte Frank Esslin. Gibbon sah keine Fesseln. Deshalb konnte er nicht verstehen, wieso Frank sich nicht erhob.
Er beugte sich zu Frank Esslin hinunter.
Im selben Moment vernahm er hinter sich ein feindseliges Zischen!
Marsha Caan, der Engel des Todes, war auf der Bildfläche erschienen…
***
Glenn Gibbon wirbelte herum. Vier Yards von ihm entfernt stand Marsha. Ihre linke Gesichtshälfte war totenblaß, während die rechte Gesichtshälfte blutrot leuchtete.
Ein entsetzlicher Anblick.
»Es freut mich, daß Sie meinen Vorschlag akzeptiert haben, Mr. Gibbon«, sagte die Rächerin kalt.
»Frank darf nicht für das mit dem Leben bezahlen, wessen ich mich schuldig gemacht habe!« erwiderte Gibbon.
»Ich dachte mir, daß das Ihre Einstellung ist.«
»Werden Sie Frank jetzt freilassen?«
»Nicht sofort«, antwortete Marsha Gibbon. »Später erst. Wenn Sie tot sind, Mr. Gibbon.«
Wie Eis rieselte es über Glenn Gibbons Wirbelsäule. Sein Herz trommelte wie verrückt gegen die Rippen. Marsha wußte nicht, daß er Tony Ballards Ring trug.
Gibbon hoffte, daß er dem Todesengel damit den Garaus machen konnte. Er fragte sich, was er nun tun sollte. Abwarten? Oder war es besser, das Mädchen anzugreifen?
Man sagt allgemein, Angriff wäre die beste Verteidigung. Traf dies auch in Marsha Caans Fall zu?
Glenn Gibbon war noch unentschlossen, als der Engel des Todes ihn jeglicher Entscheidung enthob. Glenn Gibbon spürte plötzlich zwei eiskalte Hände an seiner Kehle, die sofort brutal zudrückten.
Marsha regte sich nicht.
Sie tötete mit der Kraft ihres Willens.
Für Gibbon kam der Angriff so unverhofft - obwohl er die ganze Zeit damit gerechnet hatte -, daß der Schock ihn buchstäblich lähmte. Panik überflutete ihn.
Er war zu keinem vernünftigen Gedanken fähig, während sich die kalten Todesfinger immer tiefer in seinen Hals gruben.
Er wankte. Seine Augen quollen hinter den Gläsern der Brille weit aus den Höhlen. Die Zunge drängte sich zwischen den Zahnreihen hindurch.
Gibbons Gesicht war zu einer schmerzlichen Grimasse verzerrt.
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