GK446 - Der Geisterhenker
Er ist kein Mensch. Sie jagen keinen wahnsinnigen Mörder, wie es in der Zeitung steht. Wenn Sie diesen Fall aufklären und abschließen wollen, müssen Sie einen Geist verhaften, und das können Sie nicht, das kann niemand.«
Der Inspektor machte eine beschwichtigende Geste. »Nun mal langsam, junger Mann. Sie wollen allen Ernstes behaupten, Wegner und Poelgeest wären von einem Geisterhenker hingerichtet worden?«
Oliver nickte. »Ich weiß, daß das unglaublich klingt, aber es ist wahr. Ich habe es selbst miterlebt. Ich befand mich auf dem Nachhauseweg…« Der Junge nannte den Namen des unheimlichen Parks, in dem sich die Richtstätte der Hölle befunden hatte, und berichtete nun ausführlicher, was sich nach dem Kinobesuch ereignet hatte.
Und er setzte seinen Bericht mit dem fort, was sich letzte Nacht im selben Park abgespielt hatte.
Roland Fuchert hatte sich schon viele haarsträubende Geschichten anhören müssen, aber diese war die harrsträubendste von allen. Er wußte ehrlich nicht, was er davon halten sollte. Der Junge machte einen seriösen Eindruck. Er meinte jedes Wort ernst, das er sagte. Und doch schrie die Geschichte zum Himmel.
Geister in Hannover.
Wie hätte Fuchert seinem Vorgesetzten klarmachen sollen, daß er plötzlich Jagd auf Geister machte.
Er ließ sich die Anschrift des Jungen geben und wollte sich die Geschichte mal gründlich durch den Kopf gehen lassen. Auf jeden Fall würde er sich um das Verschwinden von Torsten Klenke kümmern, das versprach er Oliver Kirste. Zu einer weiteren Zusage ließ er sich jedoch vorläufig noch nicht hinreißen. Geister in der Stadt. Das wäre ein Fressen für die Presse gewesen, wenn Roland Fuchert damit aufgefahren wäre. Man hätte ihn in aller Öffentlichkeit für verrückt erklärt, und er hätte es den Reportern nicht einmal verübeln können.
»Werden Sie versuchen, dem Geisterhenker das Handwerk zu legen?« fragte Oliver, als er sich schon zum Gehen erhoben hatte. »Sie werden es nicht schaffen, Inspektor. Es kann Ihnen passieren, daß seine Schergen auch Sie holen, wenn Sie ihm lästig werden.«
»Keine Sorge«, sagte Fuchert schwach lächelnd. »Ich werde mir jeden Schritt gut überlegen.«
***
Sie hatten ihn erwischt und zum Galgen geschleift, aber der Geisterhenker hatte ihm keinen Strick um den Hals gelegt. Noch nicht. Es war jedoch beschlossen, daß auch Torsten Klenke am Höllengalgen enden sollte. Bis dahin sollte er in einem finsteren Verlies schmachten. Die Geisterknechte hatten ihn in einen feuchten Keller geworfen, gleich nachdem sich der Höllengalgen und alle Geister in Nichts aufgelöst hatten. Sie waren in ein unheimliches Zwischenreich hinübergewechselt, und dort befand sich Torsten nun im Verlies. Modergeruch nistete sich in seine Kleider ein. Ihm war kalt. Ratten pfiffen in der Dunkelheit, und manchmal kamen sie ihm so nahe, daß er angewidert nach ihnen trat.
Der Wechsel von der Erde ins Zwischenreich war nahtlos erfolgt. Während die einen Eindrücke verschwammen, tauchten neue auf.
Nun befand sich Torsten in einem Land, in dem es keine Sonne gab.
Es war das Land der ewigen Finsternis.
Hierher hatten sich die Geister zurückgezogen, und bald würden sie auf der Erde wieder grausam zuschlagen.
Schritte hallten durch das Gewölbe. Die Kerkertür wurde aufgeschlossen. Obwohl es finster war, konnte Torsten den Höllenschergen deutlich sehen. Das war eines der vielen Phänomene in diesem Land. Der Geisterknecht stellte einen Napf auf den Boden.
»Schweinefraß«, sagte er grinsend. »Für dich.«
»Ich habe keinen Hunger«, erwiderte Torsten Klenke.
»Der wird sich einstellen.«
Da Torsten jegliches Zeitgefühl abhandengekommen war, fragte er: »Wie lange bin ich schon hier?«
»Hier gibt es keine Zeitbegriffe. Auf der Erde gibt es Tage und Nächte. Hier gibt es nur Nächte. Eine geht in die andere über. Es ist egal, welche gerade dran ist.«
»Wie lange arbeiten Sie schon für den Geisterhenker?«
»Solange ich denken kann.«
»Habt ihr schon viele Menschen umgebracht?«
»Eine ganze Menge. Aber mit dem großen Saubermachen haben wir erst jetzt begonnen.«
»Waren Sie früher auch ein Mensch?«
»Vielleicht, ich kann mich nicht mehr erinnern.«
»Was wäre, wenn Sie mich laufenließen?«
»So etwas würde ich nie tun.«
»Nehmen wir es nur einmal an«, sagte Torsten.
»Wenn ich dich laufenließe, würde der Geisterhenker mich an deiner Stelle aufknüpfen, und das mit vollem Recht, denn dann wäre ich
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