GK446 - Der Geisterhenker
Möglichkeit gehabt, umzukehren, aber das kam für ihn nicht mehr in Frage. Er zwang sich seinen Mut auf. Torsten hatte ein Recht darauf. Oliver schlich so lautlos wie möglich durch die Finsternis.
Nach jedem dritten Schritt schaute er auch kurz zurück. Nur Dunkelheit war da. Sonst nichts. Trotzdem war dem Jungen unheimlich zumute. Aber er gab nicht auf. Schritt um Schritt rang er sich ab.
Weiter, immer tiefer wagte er sich in den Park hinein.
Dort vorne krümmte sich der Weg.
Oliver bekam feuchte Hände.
Er stand unter Strom. Jeder Schritt kostete ihn eine große Überwindung, aber er blieb nicht stehen, ging weiter und erreichte die Stelle, von der aus man den Höllengalgen sehen konnte.
Der Platz war leer.
Ein Teil der Spannung baute sich sofort ab. Wie schon in der vorigen Nacht war der Galgen wieder verschwunden. Oliver schlich dorthin, wo das Podium gestanden hatte.
Er entdeckte etwas, das auf dem Boden lag und schimmerte. Glas. Torstens Brille!
Oliver hob sie auf. Sie war nicht kaputt. Er klappte die Bügel zusammen und schob die Brille in die Hosentasche - und während er dies tat, fragte er sich ängstlich, was mit Torsten geschehen war.
***
Wir nahmen das Frühstück tags darauf spät ein. Um zehn Uhr. Ich hatte lange nicht einschlafen können, dafür war ich am Morgen dann nicht aufgewacht, und Lance war es ebenso ergangen. Ohne daß wir uns verabredet hätten, waren wir mit der Morgentoilette zur selben Zeit fertig. Ich ließ mich von der Telefonistin mit seinem Zimmer verbinden, und er sagte: »Guten Morgen, Tony. Ich wollte mich gerade bei dir melden.«
»Schon gefrühstückt?«
»Nein. Du?«
»Ich auch nicht.«
»Dann wollen wir’s jetzt nachholen. Ich habe einen Mordshunger.«
»Ich könnte den Kitt von den Fenstern essen.«
Wir trafen uns im Frühstücksraum. Die meisten Gäste waren schon gegangen. Einige saßen noch an den Tischen, hatten bestimmt keine große Freude mit Lance und mir, aber sie ließen es uns nicht merken.
Im Vorbeigehen hatte ich mir eine Zeitung gekauft.
Ich legte sie neben mich auf den Tisch.
»Kaffee, Tee oder heiße Schokolade?« fragte uns der Kellner freundlich.
Sowohl Lance als auch ich entschieden uns für Kaffee.
Während wir darauf warteten, warf ich einen Blick in die Zeitung. Um nicht unhöflich zu sein, hatte ich zuvor meinen Freund gefragt, ob es ihm etwas ausmache.
Und dann sprang mir eine Schlagzeile ins Auge, die mich elektrisierte: GEHEIMNISVOLLE MORDSERIE.
Unterzeile: Zweiter Toter wurde gefunden - ein Wahnsinniger treibt in Hannover sein Unwesen.
Ich schaute mir die Fotos an, die zum Bericht gehörten. Sie zeigten einen Richter namens Wolfram Wegner und einen holländischen Geschäftsmann namens Frank Poelgeest. Beide waren mit einer Schlinge um den Hals tot aufgefunden worden. Der eine in einer Gartengerätehütte in Ahlem, der andere unter einer Eisenbahnbrücke in Ledeburg. Ich erfuhr aus dem Bericht, daß die polizeilichen Ermittlungen von Inspektor Roland Fuchert geleitet wurden, und daß der Inspektor der Ansicht war, Wegner und Poelgeest wären einem verrückten Henker in die Hände gefallen. Daß beide Personen von ein und derselben Person ermordet worden waren, daran hielt der Kriminalinspektor fest, und das war auch meine Meinung, aber ich war nicht so optimistisch wie er, denn der Reporter zitierte seine Worte: »Den Burschen haben wir bald.«
Das glaubte ich nicht.
Fuchert wußte nicht, was ich wußte.
Aber er sollte es von mir erfahren. Ich beschloß, den Inspektor noch am Vormittag aufzusuchen und ihm klarzumachen, womit er es diesmal zu tun hatte. So etwas war ihm bestimmt noch nicht untergekommen, und da er diesen Fall allein unmöglich erfolgreich abschließen konnte, hatte ich die Absicht, ihm meine Hilfe anzubieten. Er konnte sie annehmen oder ablehnen, das war mir egal. Ich würde mich auf jeden Fall mit der Sache befassen. Mit oder ohne sein Einverständnis.
Der Kaffee kam. Heiß und schwarz.
Ich schob Lance Selby die Zeitung zu. Als er Poelgeests Bild sah, wurde er blaß um die Nase. »Ich hab’s befürchtet.« Er las aufgeregt den Artikel. »Der Inspektor sollte den Mund lieber nicht so voll nehmen«, sagte er, als er fertiggelesen hatte.
»Er mußte das sagen«, verteidigte ich den Polizisten.
»Und warum?« wollte Lance wissen.
»Damit in der Stadt keine Panik ausbricht. Solange es keinen dritten Toten gibt, werden die Leute glauben, was Inspektor Fuchert gesagt hat. Erstens, weil sie es gern glauben
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