GK453 - Wolfsmond
betrat einen Raum und knipste einen Wandschirm an, der zur Betrachtung von Röntgenbildern diente. Zwei Aufnahmen schob er in die Halterung.
»Sehen Sie sich das einmal an. Ich habe keine Erklärung dafür.«
Wir sahen zahlreiche Knochen. Einen Brustkorb. Dr. Remick machte uns darauf aufmerksam, daß auf dem rechten Bild fast jeder Knochen gebrochen war.
»Verkehrsunfall«, erklärte er. »Der Patient erlitt dabei Serienbrüche. Und nun sehen Sie sich die linke Röntgenaufnahme an. Die rechte machten wir gleich nach der Einlieferung des Mannes. Die andere heute vormittag. Was erkennen Sie?«
Mr. Silver trat näher. »Alle Knochen sind ganz.«
»Stimmt«, sagte der Assistenzarzt.
»Sind Sie sicher, daß die Aufnahmen nicht vertauscht wurden?« fragte der Ex-Dämon.
»Ganz sicher. Ich habe sie selbst gemacht«, antwortete Remick. »Es geht nicht in meinen Kopf rein. Sämtliche Brüche sind über Nacht geheilt. Sosehr mich das für den Patienten freut, muß ich doch sagen, da stimmt irgend etwas nicht. Dabei kann es unmöglich mit rechten Dingen zugehen. Aber das ist noch nicht alles. Der Mann lag im Koma. Wir zweifelten an seinem Aufkommen und hatten allen Grund dazu.«
»Und?« sagte ich erwartungsvoll.
»Heute ist er bei Besinnung und fühlt sich so wohl, daß wir ihn bedenkenlos nach Hause schicken können. Aber das ist immer noch nicht alles. Im gleichen Zimmer der Intensivstation lag ein weiterer Patient nach einem Herzinfarkt. Es war damit zu rechnen, daß er nicht durchkommt. Doch plötzlich spielten die Überwachungsapparaturen verrückt, und heute ist Rex Rhodes über dem Berg. Auch in seinem Fall gibt es keinen Grund mehr, ihn länger hierzubehalten. Zwei Wunder in einer Nacht, das ist ein bißchen viel, finden Sie nicht auch?«
»Allerdings«, sagte ich. Mein Mißtrauen war wach geworden. »Der eine Patient heißt also Rex Rhodes. Wie ist der Name des anderen?«
»Der heißt«, sagte Dr. Remick und stieß mich damit aus dem Gleichgewicht, »James Blackburn.«
***
Sie lagen nicht mehr in der Intensivstation, aber man hatte sie vorläufig beisammen gelassen.
Blackburn grinste zu Rhodes hinüber. »Wie fühlst du dich?«
»Ich habe Hunger«, knurrte Rex Rhodes. Eine unbändige Gier hatte ihn befallen. Der Mordtrieb machte ihn unruhig. Er wäre gern aus dem Bett gesprungen, um sich ein Opfer zu suchen. Blackburn konnte sich besser beherrschen. Er hatte in der vergangenen Nacht ja getötet. Seine Mordlust war für eine Weile gestillt. Sie würde ihn erst wieder bei Einbruch der Dunkelheit mit schrecklicher Intensität befallen. Zur Zeit hatte er Ruhe vor ihr.
»Du mußt lernen, deinen Hunger zu bezähmen«, sagte Blackburn.
»Will ich aber nicht.«
»Die Nacht ist für uns zum Jagen da.«
»Ich kann es auch am Tag.«
»Zweifellos, aber unsere volle Kraft können wir erst nach Einbruch der Dunkelheit entfalten, denn dann unterstützen uns die Mächte der Finsternis.«
»Ich will aber jetzt töten!« keuchte Rex Rhodes. Er leckte sich gierig die Lippen, drehte den Kopf unruhig hin und her, und sein Gesicht bedeckte sich mit Schweiß.
Blackburn grinste. »Oja, es ist wie eine Sucht. Ich kenne dieses Gefühl.«
Rex Rhodes legte seine Hände aufs Gesicht. Er atmete schwer. Aus seinen Handrücken wuchsen mit einemmal dunkle Haare, die Hände wurden zu Wolfspfoten. Der Mann konnte sich nicht mehr länger beherrschen. Der Wolf brach aus ihm hervor. Hechelnd setzte sich Rhodes auf, nachdem die Verwandlung abgeschlossen war.
Blackburn lächelte. Er hatte jetzt einen Bruder. Mit einemmal meldete sich auch in ihm die Gier und der Wunsch, sich zu verwandeln. Hinzu kam, daß Rhodes im Jagen noch unerfahren war, deshalb wollte ihn Blackburn auf seinem blutigen Streifzug durch die Klinik lieber begleiten.
Rhodes sprang mit einem kraftvollen Satz aus dem Bett. Eine gefährliche Bestie mit funkelnden Augen. Die Zunge hing dem Wolf aus dem Maul. Er wandte sich um und starrte zur Tür. Er mußte raus aus dem Zimmer, mußte sich auf die Suche nach seinem ersten Opfer begeben.
In diesem Moment setzte auch bei Blackburn schlagartig die Metamorphose ein. Auch er verließ das Bett. Auch er hatte auf einmal Hunger.
Die Monster eilten zur Tür.
Rex Rhodes öffnete sie. Beide Ungeheuer blickten auf den Gang hinaus. Im Augenblick war niemand zu sehen. Unbemerkt verließen die Scheusale ihr Zimmer und begaben sich auf die Suche nach einem Opfer.
***
Ina Franch arbeitete seit vier Wochen in der St.-James-Klinik.
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