GK460 - Das Geisterdorf
versuchte ich, ihn zu trösten, aber es gelang mir nicht. Ich erkannte, daß er an Leib und Seele gebrochen war, und wußte, daß er über diesen schmerzlichen Verlust niemals hinwegkommen würde.
Roxane, seine große Jugendliebe. Lange Zeit war sie zwischen den Dimensionen verschollen gewesen. Nur einmal, in einer Stadt im Jenseits, hatten sie einander kurz wiedergesehen, dann war die Hexe, die dem Bösen genauso abgeschworen hatte wie Mr. Silver, wieder verschwunden. [2]
Eines Tages stieß sie dann aber zu uns, und wir glaubten, sie würde für immer bei uns bleiben.
Und nun hatten wir sie verloren.
Tingo, die Dämonenschlange, hatte sie sich geholt. Mit seiner klebrigen Zunge hatte sich das Ungeheuer die Hexe geschnappt und in die Tiefe gerissen. Obwohl dieses grauenvolle Erlebnis bereits fünf Tage zurücklag, stand ich immer noch unter dem Schock, den ich dabei erlitten hatte.
Wir konnten alle nicht mehr froh werden.
Mr. Silver erholte sich langsam wieder, aber seinem Leben schien der Sinn genommen zu sein. Er fragte sich, für wen er gesund werden sollte: für sich selbst? Das war ihm unwichtig. Für Vicky und mich? Das war wenigstens ein Grund.
In den nächsten Tagen ging es Mr. Silver immer besser, aber er freute sich nicht darüber. Er konnte schon aufstehen, kam allmählich wieder zu Kräften, schlich aber mit einer Leichenbittermiene durch das Haus, die mich krank machte.
Deshalb benützte ich die erstbeste Gelegenheit an diesem Tag, um unseren Freund und Nachbarn Lance Selby aufzusuchen.
»Möchtest du etwas trinken, Tony?« fragte der Parapsychologe, ein großer Mann mit gutmütigen Augen und der Andeutung von Tränensäcken darunter. Sein dunkelbraunes Haar begann, an den Schläfen leicht grau zu werden.
Ich schüttelte lustlos den Kopf.
»Nicht mal einen Pernod, dein Lieblingsgetränk?« fragte Lance Selby verwundert.
Ich winkte ab, griff in die Tasche, holte ein Lakritzebonbon heraus, wickelte es aus dem Papier und schob es in den Mund. Lance wußte, was geschehen war. Alle wußten es, mit denen wir befreundet waren. Frank Esslin in New York. Vladek Rodensky in Wien. Tucker Peckinpah, der Industrielle, mein Partner…
»Ich mache mir Sorgen um Silver«, sagte ich mit belegter Stimme.
»Ich dachte, er wäre über dem Berg«, meinte Lance. »Hat es einen Rückschlag gegeben?«
»Nein, nein, das Zauberkraut ist hervorragend, Silver spricht phantastisch darauf an. Aber der Verlust von Roxane hat ihn gebrochen. Silver hat einen schlimmen Knacks abbekommen. Davon erholt er sich nicht mehr.«
»Er wird wieder ganz der alte. Laß ihm Zeit, Tonv. Die Zeit heilt viele Wunden.«
»Nicht bei Silver. Du weißt, er ist in vielen Dingen anders als wir. Schließlich ist er kein Mensch. Er haßt anders als wir. Er liebt auch anders als wir. Und er leidet anders…«
»Er hat mein ganzes Mitgefühl«, sagte Lance ehrlich.
»Das hat er von uns allen. Aber hilft ihm das? Ach Gott, wenn ich ihm nur richtig helfen könnte. Ich würde wirklieh alles tun, um ihn wieder glücklich zu sehen. Aber was kann ein Mann wie ich mit seinen bescheidenen Fähigkeiten schon für einen Ex-Dämon tun?«
»Kopf hoch, Tony. Das Leben geht weiter.«
»Schöne Sprüche, aber die trösten mich nicht. Wir haben nicht nur eine großartige Freundin, sondern auch eine unersetzbare Kämpferin gegen die Mächte der Finsternis verloren.«
Lance Selby seufzte schwer. »Ich weiß, Tony. Ich weiß.« Das Telefon schlug an. »Entschuldige«, sagte der Parapsychologe und begab sich zum Apparat.
Ich ging zum Fenster und blickte zu unserem Haus hinüber. Ich sah die Umrisse des Hünen. Er saß in einem Sessel. Reglos. Seit er das Bett verlassen konnte, saß er oft mehrere Stunden so da, rührte sich nicht, starrte nur vor sich hin, war mit seinen Gedanken weit weg.
Vielleicht in der Vergangenheit -dort, wo es Roxane noch gegeben hatte, wo er glücklich mit ihr gewesen war. Weit vor der Zeit, zu der ich ihn kennengelernt hatte.
Ich hörte nicht hin, was Lance am Telefon sprach, schaltete ab und beschäftigte mich auch mit Roxane. Ein heiteres, unbeschwertes Mädchen war sie gewesen. Liebenswert und unkompliziert. Anpassungsfähig und hilfsbereit und mit Parakräften ausgestattet, die uns sehr nützlich gewesen waren.
Voller Ingrimm - und vielleicht auch mit ein bißchen Schadenfreude -dachte ich an Mago, den Schwarzmagier, den Jäger der abtrünnigen Hexen. Nun hatte er Roxane, auf die er so scharf gewesen war, doch nicht
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