Glaesener Helga
Städtchen war kleiner als Montecatini. Ein bebauter Maulwurfshügel mit einer Stadtmauer, die vom Alter schwarz war. Niemand machte sich die Mühe, das Unkraut aus den Fugen im Mauerwerk zu ziehen, und so war es mit grünen Tupfen übersät, als hätte es eine Pustelkrankheit. Streckenweise war die Mauer auch eingerissen und als Steinbruch missbraucht worden.
Emilia zuckelte gemütlich durch das Stadttor. Cecilia hatte gedacht, sie müsste sich zum Kloster durchfragen, aber das Gässchen führte geradewegs zum Markt. Ein Marmormönch mit tonsurierten Schädel – die Messingtafel auf dem Sockel wies ihn als den Heiligen Niccolò aus – blickte streng auf die wenigen Menschen, die um die Mittagszeit über den Platz schlenderten. In seinem Rücken befand sich ein geräumiger, durch eine hohe Mauer geschützter Gebäudekomplex, daneben eine Kirche, in deren Innerem helle Mädchenstimmen im Chor etwas Lateinisches rezitierten. Sie hatte ihr Ziel also erreicht. Gut.
Cecilia lenkte die Kutsche in einen Innenhof und war angenehm überrascht. Statt des Verfalls, der im übrigen Städtchen herrschte, fand sie ein entzückendes Karree mit einem Springbrunnen, züchtig bekleideten Putten, Blumenbeeten und Fliederbäumen, die diesen Ort in wenigen Wochen in ein blühendes Paradies verwandeln würden. Auf ihren Ruf hin trat ein Bursche mit strohverklebten Stiefeln aus einem Stall, der ihr die Zügel abnahm und mit der Mütze in der Hand den Weg erklärte.
Die Äbtissin selbst war zwar abwesend, aber dafür wurde Cecilia von einer mütterlich aussehenden Nonne empfangen, die ihr die Schlafsäle, das Refektorium, die Schulräume und den Ballsaal zeigte und schwatzend Anekdoten von sich gab, aus denen man erkennen konnte, dass das Kloster ein Hort der Frömmigkeit, aber auch der Heiterkeit war.
In dem Ballsaal wurden vornehmlich Konzerte gegeben. Doch die Äbtissin hatte auch eine Dame für den Tanzunterricht engagiert, denn man war sich der Verantwortung für die jungen Blüten bewusst, und der Tanz hatte ja mittlerweile in der Erziehung in Herrschaftskreisen seinen festen Platz gefunden. »Natürlich ist die Äbtissin trotzdem streng. Was den Lebenswandel und die fromme Erziehung angeht – da müssen Sie sich keine Sorgen machen.«
Cecilia machte sich keine Sorgen. Alles war sauber und hübsch, auch wenn man den klerikalen Geist durch sämtliche Gänge wehen spürte.
»Ein friedlicher Ort«, lobte sie, und indem sie über den Wandvorhang sprach, der in hübschen Grüntönen die Mutter Gottes mit dem Kinde zeigte, flocht sie rasch ein, was der eigentliche Grund ihres Kommens war: »Spricht etwas dagegen, wenn Dina schon ein wenig früher kommt?«
»Früher?«
»Um genau zu sein: In zwei Wochen – das würde uns am besten passen. Dinas Großmutter … Nun, wie soll ich es ausdrücken? Wir müssen mit Bestürzung verfolgen, wie sie von Tag zu Tag …« Sie stockte.
»… seltsamer wird?«
Hübsch ausgedrückt. Es war nicht einmal gelogen. »Das Alter eben. Der natürliche Lauf des Lebens. Aber für ein junges, empfindsames Mädchen …«
Die Nonne tupfte eine Träne aus dem Augenwinkel. Einer ihrer Zöglinge – sie wollte keinen Namen nennen, denn die Äbtissin hielt auf Diskretion – litt grausam unter der Erinnerung an ihren lieben Großpapa, den sie während ihres letzten Ferienbesuchs aufs Entsetzlichste verändert vorfand. »Unfähig zu den einfachsten körperlichen Verrichtungen, unfähig sogar, seine Enkelin wiederzuerkennen. Dabei hat sie ihn so geliebt, das arme Herz. Doch wie ich immer sage: Der Herr sendet die Prüfungen nach seinem Wohlgefallen, und uns ihnen zu unterwerfen, heißt, in seinem Lichte Frieden zu finden.«
»Gewiss«, sagte Cecilia. Das also war erledigt.
Die Sonne hatte den höchsten Punkt bereits überschritten. Emilia war vom Stallknecht versorgt worden, Cecilia selbst knurrte der Magen. Auf dem Weg zum Tor passierte sie einen Gasthof, aus dessen Fenstern der Duft von Gemüse und geschmortem Wildfleisch drang. Natürlich stand außer Frage, dass ihr eine derartige Lokalität ohne männliche Begleitung verwehrt blieb – dennoch spähte sie sehnsüchtig in den Innenhof, den Hort dieser köstlichen Gerüche.
Sie erblickte eine hellblau verputzte Küche mit einem geschwärzten Schornstein, und dann, als die Vittoria das Tor schon fast passiert hatte, in einer anderen Ecke …
Sie reckte den Hals, um genauer zu schauen. Gewiss war sie einer Sinnestäuschung aufgesessen. Die armen Nerven, nicht
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